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Während ich auf das Höllentor zu flog, kroch das riesige Echsenvieh wieder zurück, entweder hatte Leviathan einen ihrer Verbündeten schwer verletzt, oder die Kreatur hatte schlicht und ergreifend keinen Bock auf den Stress hier oben. Mir konnte es egal sein, so hatte ich wenigstens weniger zu tun. Und nun sah ich Leviathan. Die Herrin des Westens trug ihre Rüstung aus Eis, welche deutlich dicker wirkte als bei unserem letzten Kampf. Die grau-blauen Flügel hatte sie ausgebreitet und in ihrer rechten Hand hielt sie ihr beinernes Schwert. Die andere hatte sie erhoben und erhielt einen magischen Schild aufrecht, der das heilige Licht Raguels abwehrte. Leviathan wirkte noch ein wenig wacklig auf den Beinen, so als müsse sie sich erst wieder an ihre Macht gewöhnen, hatte aber dennoch keinerlei Probleme den konstanten Lichtstrahl abzuwehren. Mit ein paar Flügelschlägen war ich bei Raguel und sah hinunter auf Jack, der mit seinem Granatwerfer Dämonen unter Beschuss nahm, die die Wände des Tores hinaufklettern. "Hey, Engel!", rief ich, um das Knistern der magischen Ladungen, das Brüllen der Dämonen und die Explosionen zu übertönen. "Sieht ziemlich schlecht aus für uns. Denkst du nicht, deine Freunde da oben könnten uns ein wenig beistehen?" Raguel schüttelte knapp den Kopf. "Weitere Engel auf der Erde würden einen Krieg auslösen." "Einen Krieg auslösen? Was denkst du, was hier gerade passiert?" Ich lachte bitter auf, warf einen kurzen Blick nach unten und sagte: "Also gut. Jack wird sie nicht lange aufhalten können, wir sollten uns beeilen und uns diesen verdammten Schlüssel holen." Raguel und ich sahen uns an und ohne ein weiteres Wort hatten wir uns einen Plan zurechtgelegt. Wir waren beide geborene Kämpfer, kannten in etwa die Stärken und Schwächen des jeweils anderen. Es kam auf Geschwindigkeit an, das wussten wir beide. Raguel unterbrach den Lichtstrahl und synchron schlugen wir mit den Flügeln, schossen auf Leviathan zu. Die Dämonin, noch geblendet vom Licht, brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und sprang zurück. Raguel schleuderte einen Speer aus Licht, doch fast schon instinktiv rollte Leviathan beiseite. Ich setzte ihr nach, stach mit meinem Schwert nach ihr, aber mein Angriff wurde abgelenkt und Leviathans Klinge schnellte auf mich zu. Die knöcherne Schwertspitze schrammte über meinen Brustpanzer und Raguel sprang an mir vorbei, nutzte die vermeintliche Lücke in Leviathans Deckung und schwang seine Waffe. Eine Wasserfontäne schoss empor, umschloss das Handgelenk des Engels und gefror. Sofort zersprang das Eis, aber es hatte den Erzengel lange genug behindert, damit Leviathan ihm einen Tritt gegen die Brust verpassen konnte, der ihn einige Meter zurück warf, fast an den Rand des Tores. Die Herrin des Westens rollte beiseite und ließ ihr Schwert kreisen. "Ich muss zugeben, dass ich dich immer wieder unterschätzt habe.", sagte die Dämonin. "Dabei ist es mir früher doch genauso ergangen, viele tausend Jahre lang. Langsam begannen wir uns zu umkreisen, warteten darauf, dass der andere seine Deckung vernachlässigte. Aus dem Augenwinkel sah ich wie Raguel sich langsam aufrappelte, sich aber bewusst zurück hielt, in der Hoffnung, Leviathan überraschen zu können. "Du wurdest unterschätzt?", fragte ich und war tatsächlich ein wenig neugierig. Die Dämonin feixte. "Ich war die einzige Frau in Gottes erstem Testlauf und abgesehen von Gabriel, war ich auch noch die jüngste. Meine Brüder waren mächtig und meine magischen Fähigkeiten waren nicht so ausgeprägt wie ihre." Leviathan sprang vor, ich parierte und wir tauschten ein paar blitzschnelle Schwerthiebe aus, ehe wir wieder auf Abtand gingen und uns wieder umkreisten. Langsam, Schritt für Schritt, wich ich zurück und schob mich immer weiter nach rechts. "Also trainierte ich.", fuhr die Wirtin fort. "Tag und Nacht, viele Jahre lang, bis ich Luzifer und Michael mit dem Schwert ebenbürtig war. Doch selbst dann war ich schwächer als selbst Camael." Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin sprang Raguel auf und schoss auf Leviathan zu, wie von einer Feder geschnellt. Raguel trat ihr in die Kniekehlen, entriss ihr das Schwert und hielt sie fest, während er rief: "Jetzt, Nephilim!" Ich stürmte vor, wobei ich mein Schwert in den Boden rammte. Meine gepanzerte Hand fand den Schlüssel, der um Leviathans Hals hing, ein kräftiger Ruck reichte und die Kette riss. "Ich werde Leviathan wieder in den Höllenschlund werfen!", schrie Raguel, der mit aller Kraft versuchte Leviathan im Zaum zu halten. "Danach musst du sofort das Tor verschließen." Eine Art Seil aus reinem Licht schlang sich um den Körper der Dämonin und der Erzengel schlug mit seinen goldenen Schwingen, zerrte Leviathan über das Höllentor und wollte sie fallen lassen. Doch im letzten Moment zerriss die Dämonin das Seil, schlug ihre Klauen in Flügel und Hals des Engels und Raguel geriet ins Trudeln. "Tu es!", brüllte der Engel und legte die Flügel an. Nun breitete aber Leviathan ihre ledernen Schwingen aus und stieß einen lauten Schrei aus. Ein markerschütterndes Brüllen erklang und die Ränder des Tores erbebten. Raguel und Leviathan trudelten auf den Höllenschlund zu, rot-goldenes Blut spritzte aus der Wunde des Erzengels und im Bruchteil einer Sekunde traf ich eine Entscheidung. Dunkle Ketten wanden sich um meinen Unterarm und schossen auf Raguel zu. Kaum hatten sie sich um sein Bein gewickelt, zog ich mit aller Kraft, gleichzeitig feuerte ich einen konzentrierten Windstoß ab, gerade mal so dick wie mein Arm und mit der Wucht eines Orkans. Raguel flog auf mich zu und krachte vor mir aufs Kopfsteinpflaster, Leviathan hingegen wurde fast zweihundert Meter nach hinten geschleudert und krachte in den Bahnhof des Parks. "Jack! Ich brauche Feuerschutz!" Während Raguel sich stöhnend versuchte auf den Rücken zu drehen, hob ich die Hand, in der ich den Schlüssel hielt. Bis gestern hatte ich noch nicht mal gewusst, dass das Ding existierte und nun musste ich es benutzen um die Welt zu retten. Das ging etwas über meine Kompetenzen hinaus, das Zepter hatte mir wenigstens eine Bedienungsanleitung ins Hirn gehämmert, mit dem Schlüssel war ich auf mich allein gestellt. Besonders, da Raguel nicht wirklich ansprechbar zu sein schien. Klauen erschienen am Rand des Tores und eine bleiche Kreatur mit drei Köpfen versuchte, sich nach oben zu ziehen. In diesem Moment wurde sie von einer Granate getroffen und stürzte zurück in die Hölle. "Beeil dich, Kleiner!", rief Nero, der auf Jacks Schulter saß und den Dämon zu leiten schien. Ich schloss meine Augen, umfasste den Schlüssel und konzentrierte mich, richtete meinen Geist auf das Artefakt. Ich spürte die Wut und den Hass, mit der dieser Schlüssel erschaffen worden war, kämpfte gegen den Sog der Emotionen an. Meine Fresse, Apollyn hatte Jahrtausende mit dem Ding in der Brust gelebt, kein Wunder, dass er gewirkt hatte, als hätte ihm jemand ins Müsli gepisst. Als der Schlüssel drohte mich zu übermannen, taumelte ich einen Schritt zurück, doch dann fokossierte ich meine Gedanken, richtete sie auf Emilia, auf meine Freunde, die außerhalb der Kuppel standen, nicht imstande einzugreifen, an Jack und Nero, die alles taten um mir ein paar Sekunden mehr zu verschaffen. Plötzlich, mit einem Schlag, hatte ich die Kontrolle. Ich sah vor meinem inneren Auge die Grenze der Hölle, spürte die pulsierende Kraft der Tore, alle verbunden durch den Schlüssel. Vorsichtig streckte ich meine geistigen Fühler nach dem Tor vor mir aus, erkundete die Ränder und versuchte sie zu packen. Langsam, quälend langsam begann sich das riesige Loch im Boden zu schließen, Zentimeter für Zentimerter rückten die Ränder auf das Zentrum zu. Schmerzerfüllt schrie ich auf, es fühlte sich an als stünde meine Seele in Flammen, als würde jede einzelne Faser meines Körpers zerfetzt werden, aber ich ließ nicht los, sondern verdoppelte meine Anstrengungen. Mit einem lauten Donnern, als stießen Bergketten zusammen, geschleudert von wütenden Riesen, schloss sich das Tor und zurück blieb nur ein kahler Flecken Erde, gespickt mit kopfgroßen Steinen. Erschöpft fiel ich auf die Knie, meine Rüstung verschwand und ich musste mich abstützen, um nicht vollends zu Boden zu fallen. Mit zitternden Fingern schob ich den Schlüssel in meine Manteltasche und erhob mich schwankend. Sofort war Jack bei mir und stützte mich. Auch Raguel hatte es geschafft aufzustehen, die Wunden an seinem Hals war fast vollständig verheilt und ein Ausdruck lag in seinem Gesicht, der nur schwer zu deuten war. "Narr!", knurrte der Engel. "Was bedeutet mein Leben schon, wenn Leviathan wieder wegsperrt ist? Du hast alles aufs Spiel gesetzt wofür wir kämpfen!" Ich spuckte aus und wünschte, ich hätte Zeit für eine Kippe. Und einen Kaffee. Und vielleicht noch eine Dusche. Aber das alles würde warten müssen. "Du wärst nicht mal hier, wenn ich nicht zu dir gekommen wäre.", erwiderte ich. "Also komm mir nicht auf diese Tour. Natürlich hätte ich euch beide in die Hölle stürzen lassen können, aber was hätte das gebracht? Man hätte dich auf ewig gefoltert, deine Geschwister da oben wären verdammt sauer gewesen und früher oder später hätte Leviathan wieder einen Weg gefunden um auf die Erde zu gelangen. Jemand, der weitaus älter ist als du, hat mir gesagt, ich solle meine Kämpfe beenden und das werde ich auch tun." Raguel nickte knapp, er missbilligte meine Entscheidung ganz offensichtlich. "Also gut. Dann müssen wir alles tun, um Leviathan zu besiegen." Der Erzengel trat vor und berührte mich an der Stirn.  Überrascht lachte ich auf, als eine Welle frischer Energie durch meinen Körper schoss. Die Wirkung war in etwa so, als hätte man mit Red Bull Kaffee gekocht, eine ordentliche Prise Kokain reingekippt und mir das ganze intravenös verabreicht. Ich breitete meine Arme aus und hüllte mich wieder in meine Rüstung, dann zog ich das Longinusschwert aus dem Boden. Raguel beschwor sein Schwert und in seiner anderen Hand erschien ein Speer aus Licht. Nero sprang von Jacks Schulter und der Dämon ließ den Granatwerfer fallen, den Rucksack hatte er verloren und sein Patronengurt war leer. "Leute", sagte Jack in einem alarmierten Tonfall. "Gleich ist die Kacke so richtig am dampfen." Am anderen Ende der Main Street, zweihundert Meter entfernt, stand Leviathan, die sich aus dem Trümmerhaufen gewühlt hatte, der eben noch ein Bahnhof gewesen war. Ihr Anblick war furchteinflößend. Die Dämonin hatte ihren Kiefer ausgehängt, ihre Reißzähne waren noch länger und spitzer geworden, eine spitze, gespaltene Zunge peitschte durch die Luft. Leviathans Haut war von blau-schwarzen Schuppen überzogen und hier und da ragten  knorrige Zacken aus ihrem Fleisch und sie hielt ihr Schwert wieder in Händen. Fedrige, weiß-graue Schwingen sprossen aus ihrem Rücken und stellenweise fehlte das Federkleid und gab den Blick frei auf faulendes, ledriges Fleisch. Und selbst auf diese Entfernung konnte ich die verdrehte, hasserfüllte Aura spüren, die von der Wirtin ausging. Nero gab ein leises Fiepsen von sich, dann räusperte sich der Kater und meinte: "Ich spreche einfach mal aus, was wir alle denken: Wir sind am Arsch." Ich packte mein Schwert mit beiden Händen und trat vor, direkt neben Raguel. "Hätte nie gedacht, dass ich an der Seite einer solchen Abscheulichkeit sterbe.", murmelte Raguel und sah mich kurz an. "Wie wäre es mit Nephilim.", antwortete ich. "Wenn du mich nochmal Abschaum nennst, öffne ich die Tore wieder, nur um deinen heiligen Arsch in die Hölle zu schleifen." Jack trat auf meine andere Seite, die Axt auf der Schulter. "Auf dein Kommando", grinste er. Ich sah erst den Dämon an, dann Nero und zum Schluss Raguel. "Das Schicksal der Welt liegt in unserer Hand.", sagte ich. "Und sollten wir das hier überleben, schuldet mir jeder von euch ein Bier. Und falls nicht…", wandte ich mich an den Erzengel zu meiner Rechten. "Sollte ich in diesem Kampf fallen, dann verbrenn meinen Körper. Bis auf den Mittelfinger, den wirst du vor Gottes Thron werfen." Und ohne ein weiteres Wort stürmte ich vor, breitete meine Flügel aus und flog Leviathan entgegen.

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt