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Wäre die Lage nicht so beschissen, hätte ich vielleicht über Camaels Gesichtsausdruck lachen können. So aber blieb mir nichts anderes übrig als darauf zu warten, dass der ehemalige Engel seine Tasse Kaffee zur Seite schob, zur Bar ging und mit einer Flasche Scotch zum Tisch zurück kehrte. Nachdem er mit zittrigen Händen den vierten Drink runtergestürzt hatte, ging er erneut zur Bar und stellte kurz darauf zwei Gläser vor uns ab, die er randvoll füllte. "Also gut.", setzte er an. "Erzähl mir alles was seit unserem Treffen passiert ist. Das letzte Mal haben wir uns gesehen als ich das Gedächtnis deine Mutter löschen sollte damit du sie in Sicherheit bringen ka…" Er unterbrach sich hastig und warf einen kurzen Blick auf Emilia, die mich jetzt mit großen Augen ansah. Sah ich da etwas wie Mitleid in ihrem Blick? "Es war nötig.", sagte ich kurz angebunden. "Sie wird meinetwegen jetzt nicht mehr in Gefahr geraten." Mit aller Kraft unterdrückte ich die Emotionen die in mir tobten, dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Es war besser so. Zumindest sagte ich mir das immer, aber wie würde ich meiner Mutter helfen, wenn Leviathan die Welt in einen Krieg stürzen würde? Ich drängte diese Gedanken beiseite und erzählte Camael von den letzten Wochen. Wie ich gegen Raguel gekämpft hatte und mein Treffen mit dem Tod und Azrael. Mein Kampf gegen Horus und die Sparten, mein Wiedersehen mit Leonie und wie ich Kusanagi mit meinem Speer verschmolzen hatte. Von Durendal, dass ich Anderson hatte abnehmen können und dem hohen Preis den wir dafür hatten zahlen müssen. Und schließlich erzählte ich ihm von Leviathan. Wie mühelos sie mich besiegt hatte, dass Durendal sie kaum hatte verletzen zu können. Und am Ende, wie die Dämonin mein Herz durchbohrt und mir damit irgendwie die Kräfte genommen hatte. Camael brauchte zwei weitere Drinks um sich wieder zu sammeln. Ich nippte an meinem Glas, während ich mir eine Zigarette anzündete. Der Rauch in meiner Lunge tat verdammt gut und beruhigte mich fast augenblicklich. Camaels Finger trommelten unruhig auf den Tisch, seine Stirn lag in Falten und er schien angestrengt über etwas nachzudenken. "Das kann nicht…", murmelte er. "Obwohl… vielleicht doch. Es wäre eine Erklärung. Aber das würde bedeuten…" Emilia räusperte sich kurz. "Was ist? Hast du eine Ahnung wie wir Nath wiederherstellen können?" Der alte Engel schreckte aus seinen Gedanken und musterte mich eindringlich. "Erst einmal müssen wir feststellen ob überhaupt etwas kaputt ist. Kannst du mir bitte das Buch reichen?" Emilia schob den schweren Wälzer über den Tisch und der Engel betrachtete den Einband gründlich und streichelte sanft darüber. "Steht darin etwas, dass uns sagen kann was mit ihm los ist?", fragte sie während Camael das Buch aufschlug. "Nicht direkt. Es geht darum was in diesem Buch geschrieben steht, sondern darum woraus es besteht." Ohne weitere Erklärung riss er eine Seite heraus und stand auf. Verdammt, Jasmin würde mich umbringen. Oder, da das ja nicht ging, mir zumindest sehr weh tun. Während Camael das Blatt Papier zusammenknüllte und in den Aschenbecher legte, setzte er zu einer Erklärung an. "Das ist nicht nur irgendein Schmöker mit uralten Zaubern darin. Also, das natürlich auch, die meisten sterblichen Magier würden sich die Hand abhacken um auch nur eine Handvoll Seiten zu bekommen. Aber die wahre Macht steckt in dem Papier auf dem die Zauber stehen." Er zog ein Päckchen Streichhölzer aus der Tasche seines Hemdes, riss eines an und und murmelte ein paar Worte, die eindeutig henochisch klangen. Dann zündete er die Seite des Buchs an und atmete den Rauch tief ein. "Dieses Buch wurde auf ganz besonderem Papier gedruckt. Auf Papier, dass aus einem uralten, mächtigen Baum gewonnen wurde. Um genau zu sein, stammt es vom Baum des Wissen. Beziehungsweise einem Ableger davon. Atmet man den Rauch ein und spricht die richtigen Worte, erlang man für kurze Zeit Wissen und die Gabe Dinge zu sehen, die selbst einem Erzengel für gewöhnlich verborgen bleiben. Und jetzt steh auf Nathaniel. Steh auf und wirk einen Zauber." Ich erhob mich, streckte skeptisch die Hand aus und versuchte einen Blitz zu erzeugen. Wie zu erwarten geschah nichts. Camael sah mich an, als hätte er damit gerechnet und nickte wissend. Seine himmelblauen Augen hatten mir schon immer das Gefühl gegeben, als könne der alte Engel mir in Seele schauen, aber diesmal war es anders. Seine Augen glühten fast schon und ess war kein Gefühl mehr, diesmal wusste ich es mit absoluter Sicherheit. Der erste Engel, der den Himmel freiwillig verlassen hatte, warf gerade einen tiefen Blick in meine Seele. Dann verschwand dieses Glühen und Camael wirkte mit einem Schlag zehn Jahre älter. "Alles in Ordnung?", fragte Emilia besorgt. "Da bin ich mir nicht sicher.", antwortete Camael mit einem schwachen Lächeln. "Aber das war es wert. Das… das war ein Stück Göttlichkeit, ein kurzer Moment in dem ich mich wieder gefühlt habe wie seit Jahrhunderten nicht mehr…" "Aber hast du etwas gesehen?", fragte ich ungeduldig. "Weißt du was los ist?" "Nun, im Grunde was ich vermutet habe. Nephilim wirken Zauber anders als Sterbliche, Engel oder Dämonen. Die meisten konnten die Magie in ihrem Inneren bündeln und somit stärker machen, wie eine Lupe die Sonnenlicht fokussiert. Aber die mächtigsten beherrschten eine andere Methode. Sie absorbierten die Magie aus ihrer Umgebung und säuberten sie, ließen sie durch verschiedene… Siegel in ihrem Körper fließen. Und Leviathan hat das wichtigste von ihnen blockiert. Das bei deinem Herzen. Dieses Siegel kontrolliert in gewissen Maßen auch deine anderen Fähigkeiten. Sie sind nicht vollständig blockiert, nur schwerer zugänglich. Stell es dir wie einen zugefrorenen See vor. Du kannst das Eis durchbrechen, aber dazu brauchst du viel Kraft." Das waren bessere Nachrichten als erhofft. "Danke.", sagte ich. "Gibt es vielleicht noch etwas, das du uns sagen kannst?" Camael runzelte erneut die Stirn als draußen der Motor eines Autos erklang, dann antwortete er. "Durendal. Die Klinge ist mächtig, aber sie ist nur ein Bruchstück. Du brauchst alle Teile." "Alle Teile?", fragte ich erstaunt. "Meist du etwa alle Teile der heiligen Lanze?" "Genau. Ihr müsst sie neu schmieden, nur so könnt ihr Leviathan besiegen. Frag Jack danach, er wird dir sagen wer euch dabei helfen kann." Mit fahrigen Griffen schob er das Buch zurück in den Rucksack und drückte ihn mir in die Hand. "Ihr solltet jetzt gehen, glaub mir." Irritiert gingen Emilia und ich in Richtung Tür. Ich vertraute Camael, er würde schon seine Gründe haben. Und direkt vor der Tür stieß ich fast mit diesem Grund zusammen. Eine junge Frau, höchstens Mitte zwanzig, musterte mich neugierig. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten und ihre grünen Augen waren aufmerksam und wach. Grüne Augen mit einem blauen Ring. "Seid ihr Freunde von Camael?", fragte sie. "Irgendwie kommst du mir bekannt vor." Das war an mich gerichtet gewesen. "Woher kennst du Camaels richtigen Na….", setzte Emilia an, aber ich packte ihre Hand und zog sie weiter. "Wir sind... Ich bin niemand." Ich zog Emilia um die Ecke in einen der Schatten und einen Augenblick später waren wir in meinem Zimmer. "Wer war diese Frau?", fragte Emilia neugierig. "Kennst du sie?" "Ja.", antwortete ich knapp, und  Schuldgefühle drohten mich zu übermannen. Hatten meine Zauber versagt? "Das ist eine komplizierte Geschichte, vielleicht erzähle ich sie dir irgendwann. Jetzt haben wir etwas wichtigeres zu tun.", sage ich um vom Thema abzulenken und ging in Richtung Tür. "Wir müssen die Bruchstücke der mächtigsten Waffe seit Anbeginn der Zeit zusammensuchen und die heilige Lanze neu schmieden um das Ende der Welt zu verhindern."

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt