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Kurz vor Sonnenaufgang wachte ich auf, mit einem kalten Gefühl in der Brust. Noch etwas benommen schlurfte ich ins Badezimmer und zog mich aus. Ich mied den Blick in den Spiegel, mit jeder Narbe würden nur Erinnerungen auf mich einprasseln. Die heiße Dusche weckte endgültig meine Lebensgeister und als ich mir das geronnene Blut vom Körper geschrubbt hatte, bis meine Haut fast wund war, sah ich wieder wie ein lebendes Wesen aus. Als ich in ein frische Jeans und Shirt geschlüpft war, fühlte ich mich zur Abwechslung wieder ansatzweise menschlich. Ich wollte gerade nach einem Pulli oder meiner Jacke suchen, als mein Blick auf einen dunkelgrauen Hoodie fiel, den jemand auf meinen Tisch gelegt hatte. Der leichte Duft von Blumen lag in der Luft und unwillkürlich musste ich lächeln. Emilia. Ich schlüpfte in meinen neuen Kapuzenpulli, steckte meine Zigaretten in eine der Taschen und schlich mich lautlos in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, schloss ihn aber gleich wieder. Er war zwar gut gefüllt, aber irgendwie hatte ich nicht wirklich Hunger. Nach kurzen Durchwühlen der Schränke entdeckte ich schließlich eine Box mit Müsli-Riegeln. Ging hier eigentlich irgendjemand regelmäßig einkaufen? Ich zog einen der Riegel aus der Box, öffnete ihn mit meinen Zähnen und biss ein großes Stück ab. Auf dem Weg nach draußen schnappte ich mir ein hölzernes Übungsschwert. Es war an der Zeit besser zu werden. Balthasar, Raguel, Leviathan. Gegen keinen von ihn hatte ich bislang auch nur den Hauch einer Chance gehabt. Es war, wie Luzifer gesagt hatte, ich war nicht in der Lage mein volles Potenzial zu nutzen. Vielleicht hatte ich mich zu sehr auf mein Kraft verlassen, also würde ich meine Technik verbessern müssen. Ich aß meinen Riegel auf, dann begab ich mich in Position. Ich schloss die Augen und atmete langsam ein, während ich meinen rechten Fuß nach hinten schob. Mit einem leisen Schrei riss ich meine Augen auf, sprang vor und zerteilte die Luft vor mir. In den nächsten Minuten bekämpfte ich eine ganze Horde imaginärer Gegner. Ich wich aus, parierte und konterte. Ich übte jeden Hieb und Stich, jeden taktischen Trick und jede Finte und Parade, die ich jemals gelernt hatte. Wieder und wieder ließ ich das Schwert kreisen, sprang, und wirbelte um meine eigene Achse, bis meine Muskeln brannten. "Du steckst den Ellenbogen zu weit durch.", erklang eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich Emilia auf mich zukommen, ihr Bokken in der Hand. Sie trug ihren Kampfanzug und wirkte entschlossen. "Und deine Fußarbeit ist das letzte. Du bist zwei mal fast über eine Wurzel gestolpert, achte mehr auf deine Umgebung." Abwehrend hob ich die Hände. "Moment, Feuerlöckchen. Gönn mir eine Pause.", ächzte ich, rammte das Holzschwert in den Boden und zündete mir eine Zigarette an. Urplötzlich wurden mir die Füße weggerissen, gerade noch so schaffte ich es, meinen Sturz abzufangen. Gerade als ich hinsah, zog sich die Wurzel von meinen Knöcheln zurück. "Das ist unfair!", protestierte ich. "Ach ja?", erwiderte Emilia und ich hörte ein leichtes Zittern heraus. "Ist es fair, dass Damon tot ist? War es fair von Leviathan, dich von hinten zu attackieren?" Ihre Augen schimmerten, aber ich spürte ihre Trauer, ihre Wut. "Emilia, ich…" "Wieso hast du es mir nicht erzählt? Weißt du wie es sich angefühlt hat, als du… als sie dein Herz durchbohrt hat?" Vorsichtig stand ich auf und sah ihr in die Augen. "Emilia, ich hätte es dir gerne gesagt. Aber ich wusste nicht wie. Wie sagt man jemandem, dass man unsterblich ist? Ich konnte es selbst kaum glauben." Nervös spielte ich mit dem Zippo in meiner Hosentasche. "Ich weiß ja nicht mal, ob ich wirklich unsterblich bin. Es ist vielmehr so, dass der Tod meine Seele nicht ernten kann. Sie ist durch das Ankh an meinen Körper gebunden. Also wenn man mich in kleine Stücke hacken würde, so dass ich mich nicht regenerieren kann…" Emilia rammte mir die Hand gegen den Brustkorb und ich stolperte einen Schritt zurück. "Wag es nicht mal über so was zu reden! Und wehe du lässt mich noch mal in dem Glauben du seist tot!", flüsterte sie wütend. "Versprochen.", grinste ich unsicher. "Also, wie war das mit meiner Fußarbeit?" Emilia schien froh zu sein über den Themenwechsel und hob ihr Bokken. Eine Art Flimmern lief über die Waffe und ich konnte zusehen, wie das Holz eine Schneide formte. "Los.", sagte sie. "Dein Speer. Such dir eine Länge aus." Ich trat einen Schritt zurück und hob meine Hand. Als meine Waffe erschien, war der Griff so kurz, dass sie aussah wie ein römischer Gladius. "Also gut.", begann Emilia. "Deine Füße stehen zu dicht beieinander. Weiter auseinander, schulterbreit." Ich befolge ihre Anweisungen, auch wenn ich ein Naturtalent war, so hatte Emilia doch mehr Erfahrung. Dann griff die Cambion an. Ich hatte Emilia schon öfter kämpfen sehen, aber mir war nie klar gewesen, wie talentiert sie mit der Klinge war. Wieder und wieder schlugen wir zu, parierten und versuchten zu kontern, aber ich war müde und erschöpft, so dass keiner von uns einen Vorteil erringen konnte. Nach ein paar Minuten wurde ich unvorsichtig. Mit einer blitzschnellen Drehung ihres Handgelenks schlug sie mein Schwert beiseite und wollte mir ihre Schulter gegen den Brustkorb rammen. Ich sprang zurück und wollte meine Flügel ausbreiten um auszuweichen, doch statt mich einige Meter in die Lüfte zu erheben, stürzte ich hart zu Boden. Benommen sah ich zu Emilia hoch und rappelte mich auf. Was zur…?! Ich versuchte es ein weiteres Mal, doch wieder geschah nichts. Irritiert hob ich die Hand, konzentrierte mich und Flammen tanzten über meine Handfläche, golden und angenehm warm. Ich ließ die Flammen erlöschen und versuchte einen Blitz zu erzeugen. Nichts. "Nath?", fragte Emilia stirnrunzelnd. "Was ist los." "Ich… Ich kann meine Kräfte als Nephilim nicht mehr einsetzen." Und da war es wieder, das kalte Gefühl von vorhin.

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt