Das grelle Licht blendete mich, als der Erzengel auf die Erde zuraste und wenige Meter vor uns landete. Raguel trug seinen strahlend weißen Plattenpanzer, sein reines Schwert schimmerte in der Dunkelheit und seine sechs goldenen Schwingen waren zu einem einzigen Paar verschmolzen, was vermutlich auch viel praktischer war. Für einen Moment schien Leviathan langsamer zu werden und selbst auf diese Entfernung konnte ich ihre vor Überraschung geweiteten Augen sehen. "Nephilim.", knurrte Raguel. "Du hast lange gewartet, Mitternacht ist nur noch wenige Minuten entfernt. Wir sollten uns beeilen." Abfällig musterte er meine Freunde, während sein Schwert immer heller glühte. "Ihr da. Beschäftigt Luzifers anderen Bastard. Abschaum, du wirst Apollyn den Schlüssel entreißen." Ich betrachtete die hagere Gestalt genauer, versuchte irgendwas durch die verschlissenen Lumpen zu erkennen. Das war also Apollyn, zweifacher Verräter und Träger des Schlüssels zur Hölle. "Und du willst demnach Leviathan übernehmen.", schlussfolgerte ich. "Glaubst Du, dass du ihr gewachsen bist?" Raguel ging leicht in die Knie, richtete das Schwert auf Leviathan und schlug mit den Flügeln. "Sie mag mächtig sein, aber sie ist noch immer meine Schwester! Und jetzt: Greift an, im Namen Gottes!" Der Erzengel schoss vor, stieß mit Leviathan zusammen, während Emilia, Jack und Taio auf Balthasar zurannten. Asami sprang auf eines der Dächer und schleuderte kleine Feuerbälle nach dem Dämon. Ich hingegen war für einen Moment fassungslos. Die anderen dachten vermutlich, dass Engel sich untereinander immer als Bruder und Schwester bezeichneten, aber mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Leviathan war nie eine Seraph gewesen, schon bei meiner Vision im Berghain hatte ich einen Verdacht gehabt. Der Engel, der Gott verraten, der die göttliche Bestie Leviathan an sich gebunden und sich Luzifer angeschlossen hatte, war der Erzengel Ariel. Raguel hatte Leviathan erreicht und rammte sie frontal, so dass sie gemeinsam in Richtung des kitschigen Märchenschlosses trudelten, gleichzeitig gelang es den Anderen Balthasar wegzulocken, besonders Emilia kämpfte verbittert und stieß immer wieder vor, wie eine wütende Schlange. Nur noch Apollyn stand auf der Main Street, gefolgt von über fünfzig Sparten. Also gut, etwa bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Kampf geplant, von nun an musste ich improvisieren. Meine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während ich in einen leichten Dauerlauf verfiel. Wenn ich etwas konnte, dann ja wohl improvisieren. Zwischen der kleinen Armee und mir lagen nicht mal mehr fünfzig Meter und Asche wirbelte auf, als ich auf meine Feinde zustürmte. Ich steigerte mein Tempo nochmal, sprang auf einen Felsbrocken von der Größe eines Kleinwagens und stieß mich mit aller Kraft ab. Mit einem wütenden Schrei flog ich auf Apollyn zu und stieß zu. Der gefallene Engel wich mühelos aus, ließ meinen Angriff ins Leere gehen und ich rollte mich ab, verkürzte meine Waffe und schleuderte Luftklingen nach Apollyn, der wieder auswich. "Stell dich mir, Feigling.", knurrte ich. "Oder war das der Grund, warum du verbannt wurdest? Hast du dir schon beim kleinsten Kampf in die Hose gepisst?" "Du erbärmlicher Bastard.", zischte der Gefallene mit einer Stimme, die von jahrhundertelanger Qual zeugte, als würde Wüstenwind über Sandpapier streichen und gelbe Augen funkelten mich unter einer Kapuze hervor an. Er war groß, mindestens drei Köpfe größer als ich und seine Körperhaltung war merkwürdig verdreht. "Ich war schon alt, da waren deine Vorfahren nicht mal geboren! Ich habe in Schlachten teilgenommen, in denen du keine Minute überlebt hättest! Und du wagst es mich einen Feigling zu nennen?" Die Sparten zu meiner Rechten beobachteten mich regungslos und schienen auf einen Befehl zu warten. Hinter Apollyn sah ich Emilia und Jack, die gemeinsam versuchten Balthasar zu Fall zu bringen. "Du bist ein zweifacher Verräter.", erwiderte ich spöttisch. "Und ich bezweifele, dass du in einer dieser Schlachten mehr getan hast, als dich unter einem Stein zu verkriechen. Und jetzt kämpfe endlich!" Apollyn brüllte wie ein wütendes Tier und breitete zwei graue Flügel aus, die einst wohl rein und prächtig gewesen waren, doch nun zerrupft und schmutzig wirkten. Er hob eine Hand mit dünnen Fingern, wie die Beine einer Spinne, die in langen, vergilbten Fingernägeln endeten, die mehr wie Krallen aussahen, und riss sich die Lumpen mit einem Ruck vom Körper. Darunter kam ein entstellter Köper zum Vorschein, groß und hager, gekleidet in eine halb zerfetzte Lederrüstung. Der gefallene Engel hatte fahle Haut und überall ragten Knochensplitter aus seinem grauen, eitrigen Fleisch, als sei sein Körper zerschmettert worden und nie richtig geheilt. Apollyns Augen glühten schwach in einem beunruhigendem Gelb und sein blondes, ausgeblichenes Haar klebte an seinem Schädel. Die Enden seiner spröden Lippen zuckten und krümmten sich leicht nach oben, wobei sie spitze Reißzähne entblößten, wie bei einem Tier. "Weißt Du, wie die Kreaturen der Nacht mich nennen?", fragte ich ruhig und begann Apollyn zu umkreisen. "Nur im Schutze der Dämmerung flüstert man meinen Namen, wenn der Abschaum dieser Welt sich in Kellern und Höhlen versteckt um auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten. Der Schwarze Engel, so nennen sie mich. Und sag mir, lässt dieser Name nicht einen Funken der Furcht in dir aufglühen?" Mein Gegenüber lachte leise. "Gott selbst warf mich auf die Erde, nachdem er mir die Brust aufriss und einen Schlüssel darin verbarg, der mich Tag für Tag quälen sollte. Denkst Du, ein jämmerliches Halblut vermag mir Furcht einzujagen?" Er spuckte aus und die Augen des Engels glühten vor Hass und Verachtung. "Haltet euch zurück.", befahl er den Sparten und griff ohne ein weiteres Wort an. Überrascht wich ich zurück, Apollyns Krallen kratzten über meine Brustpanzer und hinterließen hässliche Spuren. Meine goldene Klinge zuckte blitzschnell vor, erwischte den Gefallenen am Arm und fügte ihm einen tiefen Schnitt zu. Ich rollte beiseite, entging knapp den Krallen des Gefallenen und stieß erneut zu. Mein Schwert bohrte sich in die Wade des Engels, welcher schmerzerfüllt brüllte und nach mir schlug. Ich wich zurück, doch die Spitze meiner Waffe steckte in einem Knochen fest. Rasch ließ ich den Schwertgriff los, aber zu spät, Apollyns Klauen trafen mich erneut und nur durch pures Glück verfehlte er meinen Hals. Ich flog nach hinten und rutschte durch die Asche, bis ich schmerzhaft gegen die Mauer krachte. Der gefallene Engel riss sich mein Schwert aus dem Bein, warf es achtlos zu Boden und lachte dreckig. "Zu meiner Zeit waren die Nephilim noch stärker. Ich frage mich, wieso Leviathan dich überhaupt als Gefahr betrachtet." Hustend rappelte ich mich auf und knackte mit den Fingerknöcheln. "Ich würde dir auch gerne noch ein paar Beleidigungen an den Kopf werfen.", erwiderte ich und goldene Flammen breiteten sich von meinen Handflächen über meine Unterarme aus. "Aber ich stehe ein wenig unter Zeitdruck und du hast etwas, dass ich gerne hätte. Also lassen wir die Plänkeleien." "Denkst du ich fürchte dich?", fragte mein Gegner. "Seit Jahrtausenden wandele ich auf dieser Erde. Seit Jahrtausenden wandere ich zielos umher, spüre den Schmerz seit dem Moment, in dem ich auf de Erde aufschlug, nichts was du mir antun könntest, habe ich nicht schon hundertmal erduldet! Komm schon, zeig mir warum man dich so fürchtet!" Ich stürzte vor, so schnell, dass Apollyn kaum Zeit hatte zu reagieren, ehe meine Faust sein Knie zertrümmerte. Der Engel knickte weg und versuchte sich gleichzeitig auf mich zu stürzen, um seine Krallen in mein Fleisch zu schlagen. Geschickt tauchte ich unter seinen bleichen Armen weg und ließ Fausthiebe auf seinen Körper niederprasseln. Das Geräusch von brechenden Knochen erklang und der Gestank von verbranntem Fleisch stieg mir in die Nase. Apollyn gelang es meinen Arm zu packen, doch mit einem gezielten Schlag brach ich sein Handgelenk. Der Gefallene riss seinen Mund auf und schnappte nach mir, was mich dazu zwang zurück zu springen. Ich sah die Verzweiflung in den Augen des Engels, als er seine grauen Flügel ausbreitete und versuchte zu fliehen. Doch ehe Apollyn an Höhe gewinnen konnte, sprang ich hoch, packte seinen Knöchel und schleuderte den gefallenen Engel zu Boden. Ein kurzer Gedanke reichte und mein Schwert erschien in meiner Hand. Zwei rasche Schwerthiebe reichten und Apollyns Flügel lagen abgetrennt am Boden, während der Engel sich vor Schmerz wand. Schnell und präzise schlitzte ich die Rüstung auf, um seine Brust freizulegen und wollte die Schwertspitze ansetzen. Überrascht hielt ich inne und stutzte. Apollyn grinste gehässig, als mein Blick auf den Y-förmigen Schnitt fiel, der nur notdürftig genäht worden war. "Es ist zu spät.", keuchte der Gefallene. "Deine Welt wird brennen, alles was dir etwas bedeutet, wird von der Schlange verschlungen werden." Und ich begriff die Bedeutung seiner Worte. Apollyn hatte den Schlüssel nicht mehr, Leviathan hatte ihn von dieser Bürde befreit, die ihn so lange ans Leben gekettet hatte. Blitzschnell schoss die Hand des Engels beiseite und umschloss einen Steinsplitter, der etwa so lang war wie mein Unterarm. Ich sprang auf und war im Begriff zuzustechen, doch Apollyn war schneller. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung holte der Gefallene aus und rammte sich den Splitter tief ins Herz. Sein Körper bäumte sich auf und ich sah das in seinen Augen, womit ich am wenigsten gerechnet hätte. Dankbarkeit und Frieden. Apollyn, der Träger des Schlüssels zu den Toren der Hölle, stieß einen letzten Seufzer aus, der von dem Leid seines jahrtausende währenden Lebens zeugte, dann war alles Leben aus ihm gewichen. Das Geräusch von Schwertern ertönte, die aus ihren Scheiden gezogen wurden und ich wandte den Kopf. Mit gezückten Waffen und gehobenen Schilden zogen sich die Sparten zurück, bildeten eine Phalanx und warteten ab. Ich richtete meinen Blick auf Raguel und Leviathan, die sich hoch über dem Schloss umkreisten und mächtige Schwerthiebe austauschten. "Raguel!", schrie ich aus voller Kehle. "Das war eine List! Leviathan hat den Schlüssel längst!" Selbst auf die große Entfernung konnte ich sehen, wie dem Erzengel die Gesichtszüge entglitten und für einen Moment ließ er sein Schwert ein wenig sinken. Es waren nur wenige Zentimeter, aber Leviathan reichte das aus. Die Dämonin schoss vor, durchbohrte seinen rechten Flügel und versetzte ihm einen Tritt gegen den Brustkorb. Raguel stürzte ab, raste auf mich zu, wobei er einen Schweif aus heiligem Lichter hinter sich her zog und wirbelte beim Aufprall jede Menge Asche auf. Er versuchte sich aufzurappeln, warf einen Blick auf den Leichnam Apollyns und spuckte aus. "Verdammt!", knurrte Raguel. "Alles was sie jetzt noch braucht, ist dein Blut, dass du ihr ja überlassen hast." Die Sparten schlugen langsam und rhythmisch mit den Schwertern auf ihre Schilde und zogen sich weiter zurück. Ich sah wie Leviathan landete und die Hand hob. Neben ihr erschien Balthasar in einer Rauchwolke und feixte. "Euer Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt!", rief der arrogante Dämon. "Ihr könnt uns nicht aufhalten, nur noch wenige Augenblicke, dann werden meine Armeen die Grenze zwischen den Welten überwinden und sich am zarten Fleisch der Menschen laben!" Ich breitete meine Flügel aus und flog auf Leviathan zu, doch zu spät. Aus einer Tasche ihrer Uniform zog sie einen kleinen Schlüssel, nicht größer als mein kleiner Finger, aus der anderen eine Phiole. Schwarze Ketten schossen auf die Fürstin zu, während sie den Korken mit den Zähnen zog, doch Balthasar schwang Blutdorn und ließ die Ketten einfach zerspringen. Wie in Zeitlupe sah ich, wie mein Blut über den Schlüssel lief, verdoppelte mein Tempo und war dennoch viel zu weit entfernt. Aus dem Augenwinkel sah ich Jack, der in einem Anflug selbstmörderischen Mutes ebenfalls versuchte Leviathan zu erreichen und spürte wie Raguel mit seinem verwundeten Flügel versuchte abzuheben. Doch wir waren zu langsam, Leviathan hob den Schlüssel weit über ihren Kopf und… nichts geschah. Verdutzt flog ich auf der Stelle und gab Jack und Raguel ein Zeichen ebenfall innezuhalten. "Oh nein!", rief Leviathan in gespielter Verzweiflung. "Das Blut, dass ich dir genommen habe scheint nicht zu reichen." Was zur Hölle spielte sie für ein Spiel? Adrenalin wurde durch meinen Körper gepumpt, vernebelte meinen Verstand. Ich wusste ich übersah etwas, war aber zu blind um es zu erkennen. Irgendwo hatte ich einen Fehler gemacht, hat die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Was zur Hölle hatte Leviathan nur vor? Ihr glockenhelles Lachen erklang und sie ließ die Phiole fallen. "Du müsstest dein Gesicht sehen, kleiner Nephilim. Diese Verwirrung, die fast schon an Verzweiflung grenzt. Du hast tatsächlich geglaubt, ein paar Tropfen deines Blutes würden ausreichen um Gottes Bann zu brechen. Dabei ist so viel mehr nötig. Es erfordert ein…" Ein Leben. Aber nicht irgendeins. Ich verlängerte meinen Speer und steckte alle meine Kraft in den Wurf, ließ die Waffe in Flammen aufgehen und Ketten aus den Schatten schießen. In Leviathans Hand erschien ein Dolch aus Eis und ansatzlos wirbelte sie zu Balthasar herum und rammte ihm die Waffe in die Brust. Ich sah die Überraschung im Gesicht des Dämons, den Hass, der in seinen letzten Sekunden sein Gesicht verzerrte, als er begriff, dass Leviathan ihn verraten hatte. Es war zu spät, die Herrin des Westens hatte nur mit uns gespielt, uns in dem Glauben gelassen, wir könnten sie aufhalten. Mit einer schlichten Geste wehrte Leviathan meinen Speer und die Ketten ab, stieß die Hand, in der sie den Schlüssel hielt, bis zum Handgelenk in Balthasars Brust und riss sie brutal wieder heraus. Es war nie um mein Blut gegangen, damit hatte sie Leviathan uns nur verwirren wollen. Alles was sie hätte tun müssen, war, ein Kind Luzifers zu opfern. Kälte breitete sich um die Generalin herum aus und Frost überzog die Pflanzen und das Kopfsteinpflaster. "Zieht euch zurück!", schrie ich. "Jack! Schnapp dir Asami und Taio!" Ich schoss auf das Hausdach zu, auf dem meine Freunde standen und mit angsterfüllten Gesichtern auf den Platz vor dem malerischen Schloss blickten. Ich packte Emilia und Nero, flog mit ihnen zu der Stelle, an der Apollyn sich das Leben genommen hatte und setzte sie ab, nur um sofort wieder hoch in die Lüfte zu schießen.
Ein letzter Hoffnungsschimmer glomm in mir auf, möglichweise konnte ich Leviathan daran hindern den Schlüssel zu benutzen. Mein Speer erschien wieder in meiner Hand, als ein Geräusch ertönte, als würden Berge entzweibrechen. Eine plötzliche Welle der Macht brachte mich fast zum Absturz, ich hörte das wahnsinnige Lachen von Leviathan und sah runter auf die Erde, wo sich das Tor zur Hölle langsam öffnete und den Weg freigab für eine ganze Legion von Dämonen. Das war sie, die Apokalypse. Das Ende der Welt.
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Rogue Hero
Fantasy"Jedes Land hat so seine Legenden. In jedem Landstrich hatten die einfachen Leute vor etwas anderem Angst. So entstanden Märchen und Legenden über die verschiedensten Wesen. Vampire, Werwölfe, Elfen, Riesen, Kobolde und so weiter. Du kennst diese Ge...