#157

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Die Warteschlange bewegte sich mit quälender Langsamkeit vorwärts. Neben mir seufzte Leonie genervt, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte zu erspähen, wie viele Leute noch vor uns warteten. Ich hingegen zündete mir eine Zigarette an und blieb gelassen. Das Berghain war einer der bekanntesten Clubs der Welt, jedes Wochenende standen hier tausende Menschen Schlange, aber mehr als der Hälfte wurde der Zugang verwehrt. Links und rechts vom schlammigen Weg standen hohe Bauzäune, an denen Leuchtstäbe den Partywütigen den Weg wiesen. Und zwanzig Meter vor uns war die Tür, ein Rechteck aus dem strahlend weißes Licht drang, als wäre es die Pforte zum Paradies. Aber inzwischen wussten wir, was sich in dem stillgelegten Heizkraftwerk verbarg, dessen schlichte graue Mauern aufragten wie eine Festung. Selbst für die Sterblichen war das hier ein Ort der extremen Ausgelassenheit. Sex, Drogen und Fetisch-Partys. Ein Darkroom in denen sich jeder mit jedem vergnügte. Aber Jasmin hatte uns aufgeklärt. Seit der Club im Dezember 2004 in das leerstehende Kraftwerk am Berliner Ostbahnhof gezogen war, war er ein Treffpunkt für Magier, Vampire und ähnliche übernatürliche Gestalten. Im Grunde stimmten die offiziellen Berichte über den Club, aber natülich wollte man nicht, dass alles an die Öffentlichkeit drang was jenseits der kleinen Stahltür geschah. Hier wurde hemmungslos gefeiert, Wesen aller Art stillten ihren Durst nach Blut und Sex, manchmal auch beides gleichzeitig. Es waren Drogen im Umlauf, die einen Sterblichen innert wenigen Minuten töten konnten. Prostituierte aller Art, Therianthropen, Succubi, Gestaltwandler - egal was man suchte, im Berghain fand man es. Das war auch der Grund, weshalb nur wenige Leute überhaupt reingelassen wurden. Das Ziel der Betreiber war, ihre übernatürliche Kundschaft zufriedenzustellen, also wurden hauptsächlich junge, gesunde Leute ausgesucht, natürlich mit ein paar Ausnahmen um weiterhin Menschen anzulocken. Wer das Gebäude verlassen wollte, wurde mit einem Zauber belegt, der das Gedächtnis veränderte. Und all das hatte zu meiner Entscheidung beigetragen Emilia in Havanna zu lassen und Leonie mitzunehmen. Sie hatte erst protestiert, musste dann aber einsehen, dass sie noch zu geschwächt war, in einem Kampf wäre sie aufgeschmissen. Zu meiner Überraschung meldete Leonie sich freiwillig, was Emilia nicht sonderlich erfreute. Aber die Cambion hatte geschwiegen, nachdem sie eingesehen hatte, dass es die beste Entscheidung war. Leonie war stark und schnell, mehr als fähig sich zu verteidigen, falls das ganze eskalieren sollte. Und es war allen klar, wie wahrscheinlich das war. Nun standen wir uns hier seit einer geschlagenen Stunde die Beine in den Bauch und warteten. Rote Blitze zuckten aus den Fenstern des Berghain und die Schlange vor uns wurde langsam kürzer. Gerade als ich meine sechste Kippe durch die Streben des Zaunes schnippte, wurden zwei junge Frauen vor uns abgewiesen und die Augen der Türsteher legten sich auf uns. Der älteste von ihnen war schon jenseits der fünfzig und jeder sichtbare Hautfetzen war tätowiert, aber seine Augen waren wach und aufmerksam, als er mich musterte. Sein Blick wanderte an mir hoch, von den Kampfstiefeln über meine dunkle Jeans, blieb kurz an meinem schwarzen Shirt hängen, auf dem der Nirvana-Smiley prangte und musterte schließlich meinen knielangen Mantel. Zum Glück hatte Jasmin ihn geflickt und mit einem Zauber versehen, sodass er Schäden in Zukunft selber reparieren würde. Ich wusste wonach der Kerl Ausschau hielt, aber ich trug heute ausnahmsweise mal keine Waffe, auch wenn ich mich ohne die 1911er fast schon nackt fühlte. Als nächstes wanderte der Blick des Alten zu Leonie, die Motorradstiefel, eine enge Lederhose und eine Corsage trug, alles in schwarz. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Zopf geflochten und blutroten Lippenstift aufgetragen. Bei den meisten Frauen hätte das einfach nur billig gewirkt, aber Leonie hatte schon immer eine gewisse Eleganz gehabt, dank der sie einfach alles tragen konnte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, aber noch vor einem Jahr hatten wir uns noch über die Mädchen lustig gemacht, die jeden Morgen eine halbe Stunde vor dem Spiegel standen, um sich siebenschichtiges "dezentes" Make-Up aufzutragen. "Was meinste?", riss mich die Stimme des Alten aus meinen Erinnerungen. Die Frage war an einen anderen Türsteher gerichtet, ein Mann mit schmalen Schultern und schulterlangen Haaren, der kurz zu schnuppern schien. So wie sein Blick immer wieder Richtung Himmel wanderte und den Mond suchte, war er wohl ein Werwolf. Diese Viecher hatten selbst in Menschengestalt verdammt gute Sinne und Instinkte. "Die Kleine ist okay.", sagte er schließlich. "Aber der Typ… Er riecht irgenwie komisch und sein Grinsen gefällt mir nicht." Der Tätowierte wollte etwas erwidern und uns vermutlich wegschicken, als ich ihm den Flyer aus meiner Manteltasche reichte, auf den Jasmin einige Symbole gezeichnet hatte. "Mit besten Grüßen von Jasmin Le Fay.", sagte ich gerade laut genug, dass nur sie mich hören konnten. Die Türsteher fingen an zu Grinsen, dann trat der Alte beiseite und nickte knapp. Wir traten ein, gingen durch einen hell erleuchteten Gang, vorbei an der Garderobe bis vor eine große Doppeltür, die wegen der starken Bässe dahinter vibrierte. "Bereit?", fragte die Wirtin, die auf ein kurzes Nicken meinerseits mit einem breiten Lächeln die Tür aufstieß. Seite an Seite traten wir ein, alle Sinne geschärft und kampfbereit. Als wir den Türrahmen passierten, lief mir ein leichter Schauer über den Rücken, nicht unangenehm, aber befremdlich. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte ich ein ziehendes Gefühl in der Magengegend, wie eine Mischung aus Schattenreisen und Teleportieren, nur sehr viel schwächer. Doch bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, zog mich das innere von Berghain in seinen Bann. Der Anblick der sich uns bot war faszinierend und abstoßend zugleich. Auf der riesigen Tanzfläche tanzten an die zweihundert Menschen, gänzlich versunken in ihre von Alkohol und Drogen befeuerte Extase. Und mindestens genau so viele waren verteilt auf die Sofas die überall verteilt waren, machten rum oder hatten Vampire an ihren Hälsen hängen. Hier und da sah ich eine verwandelte Werkatze oder eine Succubus, die auf dem Schoß eines Magiers saßen und hin und wieder auf dem eines Gastes. In einer Ecke sah ich sogar zwei Rabisu, die ihre Fangzähne in den Arm eines jungen Mannes geschlagen hatte. Bei diesem Anblick kochte Wut in mir hoch, siedend heiß. Ich wollte meinen Speer beschwören und unter den Vampiren und Rabisu wüten, erinnerte mich aber an Jasmins Worte. So hemmungslos es hier auch zuging, die Betreiber hatten Regeln. Und die wichtigste war, dass kein Sterblicher abkratzen durfte. Wer dagegen verstieß, landete angeblich im Keller des Berghain und wurde hart bestraft. Nur so konnte verhindert werden, dass der Laden zu sehr auffiel und garantieren, dass jedes Wochenende tausende Sterblichen versuchten in den Club zu gelangen. Also schluckte ich meine Wut runter, tippte Leonie auf die Schulter und deutete auf die Bar, die einen Stock höher gelegen war, von wo man auf die Tanzfläche runterblicken konnte. Wir quetschten uns an Menschen vorbei, ignorierten die Menschen und Wesen die es in jeder auch nur halbwegs dunklen Ecke trieben und kämpften uns zur Bar durch. Wir ergatterten zwei Hocker am Tresen und kurz darauf war der Barkeeper bei uns. Ich wollte gerade bestellen, als Leonie sich vorbeugte und über die dröhnende Musik hinweg rief: "Ein Mojito für meinen Freund hier und für mich einen Vodka Tonic!" Der Barkeeper, ein muskulöser Typ mit Glatze und Dreitagebart nickte uns zu und drehte sich um. Mit hochgezogener Augenbraue sah ich Leonie an. "Dir ist klar, dass ich keine Longdrinks mag, oder?", fragte ich. "Das ganze Gedöns im Glas nervt doch nur." Eigentlich hätte man hier drinnen ein Megafon gebraucht, um sich unterhalten zu können, aber meine Sinne waren sowieso besser als die der meisten und auch Leonies waren ziemlich gut, durch ihre Verbindung mit Fenrir. Leonie lachte und antwortete: "Deshalb habe ich dir den ja bestellt." Grinsend schüttelte ich den Kopf. Das war eines unserer Lieblingsspiele gewesen beim feiern. Irgendwelche Drinks bestellen, die der jeweils andere nicht leiden konnte und zwar so lange, bis wir hackedicht waren und absurde Namen für Drinks erfanden, die wir dann zu bestellen versuchten. Meine Favoriten dieses Spiels waren 'Slow Screw on the Beach' und 'Pink Motherfucker'. Als der Barkeeper unsere Drinks vor uns abstellte, hob Leonie ihr Glas und prostete mir zu. Abschätzend betrachtete ich den Mojito, dann griff ich nach einer Serviette und zupfte erst die Limettenscheibe und das lächerliche, babyblaue Schirmchen vom Glasrand, ehe ich begann die Minzstängel und Blätter aus dem Glas zu fischen. Dann nahm ich einen großen Schluck, der zu meiner Überraschung besser schmeckte als erwartet. Leonie schmunzelte und nippte an ihrem Vodka Tonic. "Na, du magst wohl doch Longdrinks.", meinte sie. Ich konnte mir ein Schmunzeln ebenfalls nicht verkneifen und bot Leonie eine Zigarette an. "Fast wie damals, oder?", fragte ich und zündete Leonies Kippe an und klopfte ebenfalls eine aus dem Päckchen. Die Wirtin inhalierte den Rauch, bließ ihn in Richtung Decke und erwiderte schließlich: "Nein, Nath. Es wird nie wieder wie damals sein." Sie lächelte traurig und fuhr fort. "Unsere Schicksale sind verbunden, aber Aurus und Fenrir, sie… sie verändern ihre Wirte. Ich werde zum Einzelgänger, meide Menschen wann immer es geht. Du hingegen… Der Flammenkaiser war schon immer ein Eroberer, hat Krieger um sich geschart und Frauen angezogen. Würden wir unserem Schicksal folgen, müssten wir uns hier und jetzt duellieren und zwar bis zum Tod. "Nein.", entgegnete ich. "Das akzeptiere ich nicht. Ich verstehe, dass es nie mehr so sein wird wie früher, aber ich werde dich niemals töten und dir sollte klar sein, dass du mich nicht einfach töten kannst. Unsere Freundschaft ist nicht mehr das was sie mal war, aber wir können uns doch nicht kampflos einem Schicksal ergeben, dass und aufgezwungen wird. Das war es doch, weshalb du dich Balthasar angeschlossen hast, oder?" Die Wirtin zögerte einen kurzen Moment lang, dann sagte sie: "Vielleicht hast du recht. Aber wie stellst du dir das vor? Weder Aurus noch Fenrir werden ihre Fehde einfach ruhen lassen." Ich lächelte sie an. "Sie werden damit leben müssen. Wenn unsere Leben irgendetwas bedeuten sollen, müssen wir eigenen Entscheidungen treffen. Und sie werden einsehen müssen, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Denn wenn diese Welt endet, gibt es keine Kämpfe mehr, keine neuen Wirte, nur Tod und Verderben." Die Wirtin nickte und ich sah winzige Blitze, die durch ihre Augen zuckten. "Darauf sollten wir trinken!", rief sie. "Auf uns, das Ende der Welt und Fenrir und Aurus, die sich nur melden wenn ihnen langweilig ist und uns stundenlang in den Ohren liegen werden, wenn sie unsere Entscheidung mitbekommen!" Wir stießen an, leerten unsere Gläser mit großen Schlucken und  standen auf. "Lass uns gehen.", meinte Leonie und legte zwanzig Euro auf den Tresen. "Wie haben ein Zepter zu stehlen."

Rogue HeroWo Geschichten leben. Entdecke jetzt