Kapitel 19

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PoV Anica

Ich wandte den Blick wieder zu Jana und versuchte ihre Gedanken zu verfolgen. Aber natürlich war das unmöglich. Dann sah Jana ebenfalls zum Fenster und zuckte mit den Schultern. Ich nickte stumm, schließlich wusste ich es selber nicht. Plötzlich beuge Jana sich vor und zog meinen Ärmel wieder hoch, dann schloss ihre Hand darum:,,Ich bin froh, das du dich für den ersten Weg entschieden hast und nun hier bist." Dann ließ sie meinen Arm los und sah zum Sonnenuntergang. ,,Suizid ist grausam", fügte sie hinzu und auch ihre Augen wurden wieder traurig. Ich nickte und stand auf. Dann setzte ich mich neben sie und folgte ihrem Blick, zur blutroten Sonne.

,,Hast du Geschwister?", fragte sie plötzlich und ich nickte leicht. Wie lange hatte ich meinen kleinen Bruder nicht gesehen? ,,Ja,einen kleinen Bruder. Aber er ist kein Psycho", lachte ich leicht auf. Dann musterte ich Jana erneut. ,,Wie geht es deiner Schwester?",fragte ich dann einfach so und wandte mich der Sonne zu, welche schon fast vollständig verschwunden war. Jana antwortete nicht sofort, sondern überlegte kurz. ,,Ich hoffe, es geht ihr gut...",sagte sie dann langsam und ich sagte nichts dazu. Alte Wunden sollte man nicht aufreißen um ihren Sinn zu verstehen.

,,Ist heute etwas besondrres passiert?", fragte Jana schließlich und schlug ihr rechtes Bein über das Linke. Ich schüttelte den Kopf. Es war ein normaler Tag gewesen. Anna hatte wieder nichts gegessen. Nina hatte sich erneut mit Lynn gestritten. Von Fenja gab es kein Lebenszeichen. Und ich hatte wieder vor der Psychologin gesessen und die Theraphie über mich ergehen lassen. Sie hatte sich etwas aufgeschrieben und Fragen gestellt.

,,Musst du nicht auf deine Station?", fragte Jana und ich nickte etwas. Vermutlich. ,,Eigentlich schon, aber wo ist Charlotte?", fragte ich dann und sofort trübten sich Janas Augen noch mehr. ,,Streit", sagte sie etwas traurig und ich nickte bloß. Dann stand ich auf. ,,Ich muss wirklich gehen. Bis morgen?", auffordernd sah ich sie an. Jana überlegte kurz und nickte dann. ,,Bis morgen."

Ich nahm den Fahrstuhl und stellte mich neben ein braunhaariges Mädchen. Bei Station 5 verließ sie ihn und ihre dürre Gestalt verschwand hinter den sich schließenden Türen. Ich würde Menschen nie verstehen; die sich bis auf ihre Knochen herunterhungerten. Aber ich bin doch selbst mit einem befreundet. Warum denke ich so?

Andersherum konnten sicher viele Menschen auch nicht verstehen, warum ich Drogenabhängig geworden war. Wir waren so unterschiedlich und doch hatten wir alle ein Ziel: Freiheit. Hier raus zu kommen. Vermutlich kannten nur Depressive diesen Weg der Freiheit. Noch immer rang alles in mir, ob Suizid der einzige Weg war hier raus zu kommen. Aber ich hatte es ja auch Jana so genannt. Also ist Freiheit Suizid?

Ich öffnete meine Zimmertür und betrat den schwachbeleuteten Raum. Dann schloss ich die Tür und machte das Licht an. Ich ging zum Fenster und sah einfach nur hinaus. Hinaus zu dem, was viele hier Freiheit nannten. Aber konnte dieser Lärm und die Hilfeschreie der Menschen wirklich Freiheit sein? Für mich nicht. Niemals. Aber auch hier war ich nicht allzu glücklich. Vielleicht barg Suizid doch mehr, als man annahm. Vielleicht war es wirklich der einzige Weg zur Freiheit...
Schnell zog ich die Vorhänge zu und drehte mich vom Fenster weg. Nein, ich würde versuchen zu kämpfen und erst aufgeben, wenn all meine Kraft aufgebraucht war. Erst dann, nicht vorher.

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt