Kapitel 34

260 21 2
                                    

PoV Anna

Erschrocken beobachtete ich, wie sie immer weiter nach oben kletterte. Trotz ihrer Entschlossenheit sah ich die Schmerzen in ihren Augen, als sie kurz zurückblickte und mir zunickte. Nur schwach, aber ich hatte es verstanden. Sie wollte nicht gehindert werden. Und doch mussten wir sie retten! Aber wie soll das gehen, wenn deine Augen zusehen wollen und du Angst hast?
Angst es nicht rechtzeitig dort zu sein.
Angst dich selber zu verletzen.
Angst zu sehen, wie sie springt.
Angst die letzte zu sein, der sie in die Augen blickt, bevor sie fällt.

Erst als sie den Rand des Zaunes erreicht hatte, ging eine Regung durch mich. Sie durfte nicht sterben, nicht nachdem sie Anica geholfen hatte. Nun mussten wir ihr helfen. Plötzlich waren da wieder diese verdammten Tränen und ich musste schlucken. Doch dann rannte ich zum Zaun. In diesem Moment war alles egal.
Mir war es egal, wie Jana mich beobachtete.
Und ich nahm kaum wahr, wie zwei Ärztinnen das Dach betraten.

Plötzlich hörte ich ein zischen und blieb stehen. Fenja hatte den Rand des Zaunes erreicht und zuckte mit ihrer linken Hand kurz zurück, als die Stacheln sich hineinfraßen. Wie ein Baum, der Wurzeln in regennasse Erde schlägt und nicht daran denkt je umzufallen.
Kurz sah Fenja zu mir, Verzweiflung und Trauer lagen darin. Dann fiel ihr Blick auf die Ärztinnen, die an mir vorbeirannten. Ihre Augen musterten mich noch einmal, dann drehte sie sich um und schwang sich über den Zaun.

Der Draht wickelte sich um ihre Hose und zerriss diese sofort. Dann zogen die Stacheln sich über ihr Bein und bohrten sich hinein. Ich schrie auf und wandte den Blick ab. Das konnte nicht sein!Erst kurz danach schaute ich wieder zu ihr und erwartete einen leblosen Körper. Aufgestießt auf den Stacheln eines Zaunes, der sie daran hindern sollte zu springen. Ihre Freiheit zu bekommen.

Aber sie hockte dort, auf der anderen Seite des Zaunes. Ihr Bein war blutgetränkt und ihre Arme und der Rest der Kleidung war zerschnitten. Blut bedeckte ihren Körper und doch stand sie auf, obwohl ihr Bein höllisch schmerzen musste. Fast glaubte ich die Schmerzen selber zu spüren.
Dann drehte sie sich zu uns um und musterte uns erneut, als hätte sie Angst, das sie noch jemand aufhalten könnte. Aber die Ärztinnen standen bloß hinter dem Zaun, ihre Gesichter verzerrt. Plötzlich trat Jana neben mich und ich sah in ihr ebenfalls tränennasses Gesicht.
Mir kam es so vor, als würde die Zeit stoppen; als Fenja langsam in Richtung der Dachkante humpelte. Ihr Gesicht war starr und ernst und so traurig, dass es mir das Herz zerriss.

Kurz vor der Kante sah sie hinauf zum Himmel und musterte die Wolken. Ich schluchzte, sie durfte nicht springen. Eine der Ärztinnen ergriff das Wort:,,Fenja, denk doch-" Sie brach ab, als Fenjas Blick erneut zu uns schweifte. Er war so entschlossen, das ich zusammenzuckte. Sie würde springen, egal was sie sagen würden.

Am liebsten hätte ich auch etwas gesagt; irgendetwas. Aber meine Stimme war fort. Als hätte sie mir jemand gestohlen, damit ich schwieg und auf dieses Mädchen blickte. Um endlich zu verstehen warum sie soetwas tat. Um zuzuhören, wie ihr Herz sich auf den Tod vorbereitete. Um zu sehen, wie sie ihren letzten Atemzug tat. Um sie ein letztes mal zu sehen...
Fenja humpelte ein paar Schritte in unsere Richtung und blieb stehen. Ich sah, wie viel Anstrengung sie das kostete. Das Blut tropfte auf das graue Dach und hinterließ dort eine glänzend rote Spur. Kurz blieb sie so stehen und schien nachzudenken. Aber ich wusste, das sie springen würde.

Niemand kann ein zerschnittenes Herz ewig am Leben halten, egal wie oft man es flickt. Es ist egal, wie oft man ihm hilft weiter zu schlagen. Am Ende ist es alles umsonst. Denn ein zerschnittenes Herz kann nur langsam sterben.
,,Fenja-", fing die Ärztin erneut an, doch in diesem Moment drehte sie sich wieder um. Dann humpelte sie zur Dachkante. Schließlich sah sie ein allerletztes mal zu uns. Ein letzter Blick auf Jana. Ein letzter Blick auf die Ärztinnen, die sie schon zu lange zu diesem Leben zwangen. Ein letzter Blick auf mich.
Dann sprang sie.

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt