Kapitel 155

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PoV Fenja

Ich ließ meinen bandagierten Arm sinken. Die Ärztin musterte mich kurz, dann seufzte sie. Frau Tölke saß neben mir und ihr strenger Blick lag auf mir.
Mittlerweile bereute ich es, mir nicht einfach die Pulsader aufgeschnitten zu haben. Denn dieses Leben war kein Leben mehr. Schon seit Jahren und spätestens seit Paulas Tod. Und jetzt? Jetzt wurde ich wie ein Tier herumgezogen. Ohne freie Entscheidung, begleitet von einer Pflegerin. Tag für Tag. Und vorhin hätte ich nur die Klinge nehmen müssen und mir diese verdammte Pulsader aufschneiden. Warum hatte ich es nicht einfach getan?! Warum hatte ich gezögert?!

Ich wusste es und dieses Wissen nagte an mir. Meine Finger wollten sich in den Verband krallen. Spüren, dass ich daran Schuld war. Meine Feigheit und Schwäche! Ich hatte nicht vor Kinnie sterben wollen. Ich wollte alleine sterben, dann wenn die Gedanken mein Ich zerfraßen und jeder Atemzug falsch erschien. Aber nicht neben Kinnie, niemals. Warum hassten wir einander so? Ich seufzte, den Grund kannte ich. Und dieser Grund zerfraß mich immer noch. Jedes Wort von Kinnie erinnerte mich daran, jeder Gesichtszug. Und das schlimmste war, dass Kinnie zu viel über mich wusste. Sie hatte Dinge gesehen, die niemand hatte sehen sollen.

,,Hier", die Ärztin hielt mir ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit hin. Ohne nachzudenken trank ich es und verzog das Gesicht wegen des bitteren Geschmacks. Dann sah ich wieder zu Boden. Sie würden nie verstehen; dass mir keine Medikamente halfen. Denn die Schmerzen im Inneren konnte niemand stoppen. Nur die körperlichen Dinge konnten sie heilen, indem sie mich dazu zwangen Tabletten zu nehmen. Aber ich konnte so viel besser mit Schmerzen umgehen als sie. Ich zeigte sie nicht immer, auch wenn ich daran zerbrechen könnte. Ich zeigte sie niemandem, denn es waren meine Gedanken, die sie ausdrückten.

Meine Narben waren tiefer geworden, seit ich hier war. Man hatte mir damals gesagt, ich müsse hier bestimmt nur wenige Monate bleiben. Aber ich hatte ihnen schon damals nicht geglaubt. Denn aus den Monaten waren Jahre geworden. Aus den erst nur körperlichen Wunden auch Innere. Hatte mich dieser Ort noch mehr zerstört? Ja...
In den zwei Jahren, die ich hier war, hatten sie oft über eine Verlegung geredet und vielleicht wäre es besser gewesen. Sie hätten mich verlegen sollen, bevor ich Paula ins Zimmer bekommen hatte. Bevor ich noch tiefer in den Gedanken verdunken war. Denn nur konnten sie fast nur noch darüber nachdenken, diesen Schmerz loszuwerden.

Für Frau Tölke und die Ärzte hatte ich mir heute wieder das Leben nehmen wollen. Für sie hatte Nina mich in ihrem Zimmer gefunden. Für sie war Kinnie nicht daran Schuld, Nina hatte sie nicht erwähnt. Nein, dieses Wissen hatte Kinnie nun einmal und es würde auch ihres bleiben, wenn ich tot war. Es war unsere Angelegenheit, nicht die von Betreuern und Pflegern. Und erst Recht nicht die von Psychologen.
Frau Tölke packte mich grob am Arm und zog mich hoch. Dann verließen wir die Krankenstation und ich bereute es noch mehr mir nicht das Leben genommen zu haben.

Auf der Treppe stolperte ich fast. Seit dem Maschendrahtzaun humpelte ich immer noch ein wenig bei Treppen. Aber Frau Tölke beachtete das kaum. Sie hatte sich verändert. Wir hatten uns noch nie verstanden, aber mittlerweile hofften wir beide vermutlich darauf, dass ich endlich starb. Denn wer wollte schon immer auf einen suizidalen Psycho aufpassen, der sich nur noch das Leben nehmen wollte und alles zu hassen schien?
Dabei waren sie selbst Schuld, wenn sie mich nicht einfach sterben ließen. Sie verstanden es immer noch nicht, verstanden mich nicht. Verstanden den Wunsch nach dem Tod und dem Ende der Schmerzen nicht.

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt