Kapitel 118

98 14 1
                                    

PoV Anna

Ich schaute auf das Essen vor mir. Alles in mir sträubte sich dagegen das Brötchen anzurühren. Ich sah kurz weg und wünschte mir fast wieder zu schlafen und nichts von dieser Welt mitzubekommen. Aber zugleich hatte sich etwas verändert. Ich konnte es spüren, dass ich anders geworden war. Mein Ich hatte die Sicht geändert, ich wollte nicht wieder so werden, wie früher. Ich wollte anders werden, wollte mich ändern, sonst würde ich vermutlich irgendwann wirklich verhungern. Ich hatte mein Leben in der Hand, wie meine Vergangenheit gezeigt hatte. Nur ich alleine und niemand konnte daran etwas ändern. Niemand...

Ich legte das Tablett neben mich, zog die Decke zur Seite und stand auf. Dann ging ich zum angrenzenden Bad und stellte mich vor den Spiegel. Kurz hielt ich den Kopf gesenkt, betrachtete die weißen Fliesen. Doch dann hob ich den Kopf und sah zum ersten mal seit langem wirklich in mein eigenes Spiegelbild. Ohne mit dem Gedanken an meime Krankheit, ohne mich wirklich zu kennen. Dann zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf und ließ ich langsam zu Boden sinken. Ab diesem Moment fühlte ich mich anders, wieder wie ich, wie jemand, den ich wirklich kannte.

Zum ersten mal stellte ich die Abdzeichnungen der Rippen fest. Vorsichtig fuhr ich über die Knochen und meine Schulter. Sie fühlte sich knochig und kalt an. Meine Haut war blasser, als ich sie in Erinnerung hatte und jede Kontur schien deutlicher als die Nächste. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf jede Erhebung und zählte leise mit. Aber irgendwann hörte ich auf und ließ meine Hand sinken. Dann öffnete ich meine Augen wieder und sah auf den abgemagerten Psycho, der mich mit seinen braunen Augen musterte. Die dünnen Arme kraftlos neben sich händend und die Finger knochig, wie der Rest des toten Körpers.

Denn so fühlte ich mich, so viel mehr tot, als lebendig. Ich fuhr erneut mit meinen Händen über meinen Brustkorb und ließ meine Hand dort liegen. Und dann spürte ich meinen Herzschlag, deutlicher als je zuvor. Das deutliche Pochen in der Brust und doch so schwach. Ich seufzte und spürte Tränen in meinen Augen. Warum hatte ich das nie bemerkt? Mir kamen die unzähligen Worte der Ärzte, Psychologen und anderen Psychos in den Sinn. Wie konnte ich mich nur immer so anders sehen? War ich echt so blind?
Zum ersten mal verstand ich die Sorgen und die zweifelnden Blicke.

Ich sah wieder in den Spiegel und glaubte einen anseren Menschen zu sehen. Das war nicht ich! Ich hatte mich immer so anders gesehen, nie meinen Körper verstanden. Verstand, war meine Knie beim Aufwachen so geschmerzt hatten. Verstand, warum jeder Handgriff so schmerzhaft gewesen war. Verstand, warum ich immer so kraftlos gewesen war und nie wirklich Energie gehabt hatte. Ich verstand mich selbst zum ersten mal seit langem. Und dann brach ich zusammen, stützte mich an der Wand hinter mir ab und sah wieder in die Augen meines Ichs. In mein blasses Gesicht, voller Verständnislosigkeit und Entsetzten.

Und ich wusste, dass ich nichts so sterben wollte. Ich musste etwas ändern, bevor ich mich wieder in der Dunkelheit verlor. Meine Hand griff das T-Shirt und ich zog es mir schnell über. Hatte ich wirklich erst so nahe an den Tod herantreten gemusst, um zu verstehen, wer ich wirklich war? Vermutlich... Ich stand auf und fasste mir mit der linken Hand an die rechte Schulter. Spürte  wieder die Knochen und den Herschlag an meinem Handgelenk. Wie ein junges Rehkitz, schien es in meiner Brust zu pochen, zu jung um stark zu sein, aber bereit stärker zu werden.
Ich habe mich verstanden, mich zum ersten mal wirklich gesehen. Und ich würde alles dafür tun, mich zu ändern, nachdem es mich fast besiegt hätte...

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt