Kapitel 123

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PoV Nina

Akzeptanz. Verständnis. Mitleid. Hatte ich diese 3 Dinge jemals kennengelernt? Hatte ich auch nur einmal das Gefühl von Geborgenheit und Wärme gehabt? Ich sah auf das Blatt vor mir und sah auf meine Zeichnung. Der Bleistift in meiner Hand verkrampfte sich kurz etwas, als ich diese drei Worte um das Bild herum schrieb. Jeden Buchstaben ließ ich in dem nächsten verschwinden. Baute Schatten und Blätter in die Wörter ein und eine halb geöffnete Tür in die unterste Ecke des Blattes. Dann legte ich den Stift ab und strich mir kurz über die Haare.

Das gezeichnete Mädchen saß an eine Wand gelehnt und veegrub ihr Gesicht in den Händen. Ihre Jacke war zerschlissen und ihre langen Haare hingen ihr matt ins Gesicht. Sie waren zerzaust und standen in alle Richtungen ab. An ihren einen Schuh lehnte sich eine Katze und sah zu ihr auf, während von allen Seiten Hände nach ihr ausgestreckt wurden. Sie wollten sie zu etwas bringen, dazu sie zu ändern. Damit sie normal wurde und jede Facette ihres Ichs sich auflöste und sie ein anderer Mensch wurde. Eine Hand jedoch hielt ihr einen Schlüssel hin. Einen Schlüssel, der die unten gezeichnete Tür geöffnet hatte und sie in ein neues und besseres Leben bringen sollte.

Ich sah noch kurz darauf, dann wandte ich mich ab. Wieso ich wieder gezeichnet hatte wusste ich nicht. Vermutlich, weil ich nichts anderes zu tun hatte. Ich hatte mich gezeichnet, mein Ich, wie es sich fühlte. Zerrissen und getrennt vom Körper. Nicht mehr dazu fähig über sich selbst zu bestimmen und geprägt von anderen Menschen. Von Psychos und normalen Leuten. Von Freunden und Familie. Von Ärzten und Psychologen. Aber vorallem durch das eigene Innere, was einen zwang auf diese Menschen zu hören und sich ihnen anzuvertrauen, obwohl ich wusste, dass es nur Lügen waren.

Plötzlich spürte ich Arme, die sich um meinen Hals legten und ein Kinn, dass sich sanft auf meine Schulter stützte. Ich zuckte zusammen und entspannte mich erst, als ich Lynns Stimme hörte. ,,Das ist nicht schlecht gezeichnet", meinte sie und hob den Kopf. Dann trat sie neben mich und schob das Bild zu sich. Ich stand auf und setzte mich auf mein Bett. War ich so sehr in Gedanken gewesen, dass ich Lynn nicht gehört hatte?
Lynn ging ebenfalls zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder. Dann seufzte sie und ließ sich nach hinter fallen. Ihr Blick blieb an der weißen Zimmerdecke hängen.

,,Warum warst du nicht beim Essen?", fragte sie fast beiläufig und hob kurz den Kopf um mich zu mustern. Ich zuckte mit den Schultern. ,,Hatte Stress", sagte ich dann knapp und Lynn nickte verständnisvoll. Dann starrte sie wieder zur Decke. ,,Noch drei Tage...", murmelte sie. Sofort musterte ich sie ein wenig erschrocken. ,,Bist du dann etwa schon weg?", fragte ich und wunderte mich wieder darüber, dass wir soetwas wie Freundinnen geworden waren. Lynn setzte sich mühsam wieder auf und nickte. Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen:,,Dann bist du mich endlich los."

Sie zwinkerte und ich grinste auf. ,,Endlich alleine", sagte ich ironisch und lachte kurz. Es würde sicher komisch werden ohne eine andere Person im Zimmer. Aber vielleicht bekam ich ja eine neue Zimmerbewohnerin. ,,Du kommst bestimmt auch noch dieses Jahr hier raus", Lynns Stimme klang ernst und ich nickte hoffnungsvoll. Hoffentlich würde es so sein. Ich wollte wieder ein normales Leben führen und mich nicht immer so anders fühlen. Ich wollte endlich mit meinen Problemen abschließen und lernen damit zu leben, damit umzugehen. Und bisher ging es mir auch wirklich besser, seit Lynn und ich uns verstanden. Und ich wusste jetzt schon, dass mir etwas fehlen würde, wenn sie weg war. Hätte nie gedacht, dass ich das mal fühlen würde...

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt