Kapitel 75

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PoV Jana

Ich folgte Anica mit gesenktem Kopf in das weiße Zimmer hinein. Hinter mir hörte ich Nina den Raum betreten und die Tür schließen. Niemand von uns sprach. Uns umgab Stille, unangenehm und schweigsam. Fast glaubte ich zu spüren, wie uns unsichbare Augen anstarrten und sich um uns aufstellten. Als würden diese Augen und anfunkeln und nur darauf warten, dass wir wieder gingen. Darauf warten, dass sie zu Anna konnten und sie mit sich nehmen konnten. Sie wollten die letzten sein, die ihren Atemzug spürten und die Letzten, die bei ihr standen. Unbekannte und schwarze Gestalten, die heimlichen Boten des Todes...

Ich sah erst auf, als Anica stehen blieb. Kurz erschrak ich vor dem leichengleichen Anblick von Anna. Ihren Lippen waren fast weiß und ihr Gesicht farblos. So unglaublich es auch schien, aber trotzdem lebte sie noch. Auch wenn dies nur das schwache Heben und Senken der Brust verriet. Die Atemmaske in ihrem Gesicht war ihr letztes Halteseil zum Leben. Wenn man sie abnehmen würde, wäre sie tot. Einfach so, ohne das es sonst jemamden davon erfuhr. Und dann wäre sie fort, für immer. Keine Schmerzen und Gedanken mehr. Ein Erbe aus Tränen und Trauer hinterlassend, aber nie gewollt.

Ich wusste nicht, wie lange wir dort einfach nur standen, von Stille und Angst umgeben. Schweigend auf das schwache Atmen achtend und jeden Moment mit der Angst kämpfend, es könnte ihr letzter sein. Egal wie schlimm der Anblick auch war und an meinen Nerven zerrte, ich musste doch zugeben, dass ich Anna noch nie so friedlich gesehen hatte. Den Mund fast zu einen Lächeln verzogen, die Augen ruhig geschlossen und der Körper still und ohne Zeichen von Schmerzen oder einem stummen Kampf. Und es wurde immer schwieriger mir einzureden, dass sie es nicht wollte und nur zurück ins Leben gehörte. Denn egal wie traurig ihr Leben war, der Tod war keine bessere Option. Denn dort war man allein, hatte aufgegeben und den Kampf verloren.

Ich musste an heute morgen denken, als eine Ärztin uns von Annas künstlichem Koma erzählte. Wie Nina und ich uns ausdruckslos angesehen hatten und Angst im Blick des Anderen gesucht hatten. Wie dort kein Hass mehr war, nur Verzweiflung und Reue. Weil wir Schuld waren, weil wir ihr hätten helfen müssen. Aber wir waren zu schwach gewesen, zu leichtgläubig. Vielleicht war es unser Schicksal, dass wir hier alle starben. Aber vielleicht mussten wir hier lernen zu kämpfen, uns zu wehren und immer wieder aufzustehen.

Ich trat neben Anica und sah kurz in ihre tristen Augen. Wie gerne hätte ich diese Trübheit vertrieben, aber wie tat man dies, wenn man sie selbst besaß? Dann legte ich meinen Kopf auf ihre Schulter und schloss die Augen. Plötzlich war ich einfach nur müde und wollte einfach daliegen, ohne Angst und Verzweiflung. Ich atmete tief durch und versuchte die Anspannung abzuschütteln. Es zählte hier nur durchhalten, sich nicht runterziehen zu lassen. Stark zu sein, nicht wählerisch. Das Leben endlich zu akzeptieren und sich nicht beeindrucken zu lassen. Lass das Leben deine Nerven testen und bleib dabei stark...einfach nur stark bleiben!

Schließlich öffnete ich meine Augen wieder und hob den Kopf von Anicas Schulter. Sie sah mich kurz an und ich lächelte gequält. ,,Ich muss zur Therapie...", flüsterte ich und sie nickte bloß. Dann sah sie wieder zu Anna und schüttelte traurig den Kopf. Aber sagen tat sie nichts. Ich sah kurz zu Nina. Ihr Blick war gedankenverloren und leer, wie sie Anna musterte und einfach nur dastand. Ich wollte irgendetwas sagen, aber ich hatte keine Worte für dieses Schicksal. Nur Schweigen und Stille. Das Warten, auf das Leben oder den Tod.

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt