Kapitel 61

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PoV Nina

Ich betrat mein Zimmer und schloss die Tür sofort hinter mir. Es war leer und ich atmete auf. Dann setzte ich mich auf den Stuhl am Tisch und stützte meine Arme auf, um mein Gesicht darin zu vergraben. Dann krallte ich meine Finger in meine Haare und versuchte mich auf etwas anderes als die Frage nach dem Leben zu beschäftigen. Egal wie Mühsam es mir vorkam und wie wenig Sinn ich hatte. Irgendetwas musste es doch geben, was mich glücklich machte? Sicher aber nicht mein jetziges Leben mit der unkontrollierbaren Wut und den Menschen, die mich umgaben.

Erst als die Tür aufging, hob ich den Kopf und sah in das aufgewühte Gesicht von Lynn. Noch nie hatte ich sie weinen gesehen, noch nie hatte sie die Tür so laut zugeschlagen. Sie starrte mich kurz an, schien zu überlegen und ging dann sofort weiter zu ihrem Bett. Dort warf sie sich drauf und mit dem Rücken gegen die Wand. Ich sah, wie sie sich die Fingernägel über die Beine zog und die Kratzer wütend und traurig zugleich betrachtete. Wie ihr Blick auf mich fiel und sich sofort festigte. Wie sie den Kopf an die Wand drückte und versuchte ihren Atem ruhig zu halten. Wie sie dasaß, verzweifelt und wütend zugleich.

Ich musterte sie kurz abschätzend. Was auch immer los war, jede Frage würde im Streit enden. Jeder Satz war ein Schlüssel um die Tür zur Wut zu öffnen, ohne es zu wollen. Jede Bewegung war ein Schritt näher zu dem Feuer des Inneren. Darum sah ich sie nur an und ihre Augen trafen kurz meine. Kurz sah sie mich einfach nur an, dann wandte sie den Blick sofort wieder ab und zog sich die Nägel wieder über die blasse Haut zog und daraufhin das Gesicht abwandt.

Ihr Blick glitt fast suchend und doch verzweifelt durch den Raum, während ihre Brust sich immer schneller hob und senkte. Ich kannte dieses Gefühl. Man brauchte etwas um seine Wut in den Griff zu bekommen und sich abzulenken. Aber meistens gab es nichts...
Schließlich ging sie zu ihrem Rucksack und zog hektisch am Reißverschluss. Nachdenklich beobachtete ich jede ihrer Bewegungen. Ein stiller Beobachter. Kurz sah sie sich zu mir um, dann hockte sie sich mit dem Rücken zu mir auf den Boden und griff in den Rucksack. Ich stand vorsichtig auf und erwartete jeden Moment einen Angriff ihrerseits. Obwohl, Streit wollten wir beide grade nicht...

Plötzlich hörte ich ein schneidendes Geräusch und ein zucken lief durch Lynms Körper. Sofort lief ich zu ihr und riss ihr den Rucksack aus der Hand. Warum ich das genau getan hatte, wusste ich nicht. Dann schmiss ich ihn hinter mich und sah Lynn mit einer Mischung aus blinder Wut und Verwirrung an. Ihr Blick fiel auf mich und ich sah den Schmerz in ihren Augen. Dann betrachtete ich ihren blutigen Unterarm, in den sich der Reißverschluss des Rucksacks gebohrt hatte und die Haut aufgeschlitzt hatte.
Ich stolperte zurück und mir brannte nur eine Frage in meinen Gedanken: Warum?

Merkwürdiger Weise war ich nicht wütend, warum wusste ich nicht. Vielleicht, weil ich zu schockiert war, das Lynn sich selbst verletzte. Weil sie sich die Schmerzen und die Wut selbst austrieb, indem sie sich selbst verletzte und es nicht an mir ausließ. Weil sie mich so wehrlos und wütend zugleich ansah. Diese Seite von Lynn kannte ich nicht, hatte sie nie erlebt. Ich hatte noch nie gesehen, wie sie sich selbst hasste und es jetzt so zeigte. In diesem Moment kam ich mir vor, als würde ich in einen Spiegel sehen und dort vor mir nicht Lynn, sondern mein eigenes Spiegelbild sehen...

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Danke, das dieses Buch Platz #1 unter Depressionen und Suizid erreicht hat!<3

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt