Kapitel 159

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PoV Fenja

Ich hielt wieder Paulas Brief in der Hand. Fuhr mit meiner bandagierten Hand darüber und kniff dann die Augen zusammen. Sie war fort; für immer. Ich hatte sie verloren, den Menschen, für den ich gelebt hatte. Und ich hätte sie dazu bringen können hier zu bleiben, wenn ich besser aufgepast hätte. Ich hatte sie umgebracht...
Mein Herz schlug mit jedem Gedanken immer schneller und ich versuchte verzweifelt meinen Atem ruhig zu halten. Dann öffnete ich die Augen wieder und sah zun Bett gegenüber von mir. Frau Tölke schlief, klar, es war mitten in der Nacht. Aber schlafen konnte ich nicht.

Im schwachen Licht waren die geschriebenen Worte kaum zu lesen; aber mir reichte das; was ich wusste. Und egal ob ich sie las oder nicht, die Buchstaben konnten auch nicht verstecken, was Paula getan hatte. Ich vergab ihr alles, hassen konnte ich sie nicht. Und warum wunderte es mich immer noch, dass sie es tatsächlich getan hatte? Es war ein halbes Jahr her und das halbe Jahr davor war das einzige Halbjahr, in dem ich gelebt hatte. Für sie und weil ich musste. Das Leben war schon immer ein Kampf für mich gewesen, kalt und ohne Reue.

Sie wollte sterben. Und ich will das auch... Ja, aber gerade fühlte es sich nicht richtig an zu sterben. Ich wusste selbst nicht warum, es gab niemanden mehr für den ich leben sollte.
Mein Blick fiel zur Tür. Abgeschlossen. Dann zu Frau Tölke. Sie hatte nie etwas in ihrem Leben erlebt, das sie hier her gebracht hatte. Sie war hier am falschen Ort, sie gehörte nicht in die Welt der psychisch kranken. Kein Pfleger oder Psychologe gehörte hierher. Sie raubten einem den Sinn und machten mich zu einem Tier; dass man hetzte. Und sie zwangen dazu, Dinge zu tun, die man nicht wollte.

"Stell dir mal vor, sie würden uns hier uns selbst überlassen. Was würdest du tun,", hatte Paula mich einmal gefragt, als wir vor unseren Therapieräumen gewartet hatten, jeder bei seinen eigenen Gedanken. Damals hatte ich nur mit den Schultern gezuckt, heute kannte ich die Antwort. Entweder an Paulas Seite sterben oder leben. Aber ich hätte niemals so zum Leben gezwungen werden wollen. Niemals. Wenn ich so an damals dachte, fiel mir immer öfter auf, wie viel stärker Paula immer gewesen war. Klüger und mutiger. Ich hatte immer in ihrem Schatten gestanden und mir trotzdem tiefer die Haut aufgeschnitten.

Meine Haut war komplett vernarbt, ihre nur an den Armen. Und-
Ich atmete tief durch. Vergiss sie, verdammt! Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und ich legte den Brief weg. Ja, ich sollte sie vergessen, aber ich konnte nicht. Ich durfte das nicht. Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf zur schwarzen Decke. Versuchte hindurch, bis in den Himmel zu schauen. In die sternenbesetzte Nacht, in die leuchtenden Strahlen des Mondes. Hoffnung zwischen all der Schwärze. Aber dort war nur eine normale Decke, die mich hier einschloss, mit zeigte, weer ich war und wie ich sterben würde.

Ich ließ mich auf die Seite fallen und ignorierte die Kälte, die mich trotz des Hoodies erfasste. Ich hatte nie Angst vor dem Sterben gehabt, nur davor im Leben gefangen sein zu müssen. Aber mittlerweile lebte ich schon so lange darin, dass es "normal" war. Aber lieben würde ich es nie. Jeden Tag Tabletten schlucken zu müssen, mich Psychologen anvertrauen, von Frau Tölke betreut und Gedanken zerfetzt werden. Jede Stunde von Schmerzen gequält und Schuldgefühlen zernagt zu werden. Das war kein Leben, es war ein langsames Sterben. Und ich würde es selbst beenden, mit einem Sprung... einer Klinge... oder dem Ende meiner Psyche...

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt