Kapitel 106

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PoV Nina

Ich setzte mich auf eine der Stufen nach der Krankenstation und seufzte. Aufs Dach konnten wir nicht, es regnete und außerdem sollte dort heute aus irgendeinem Grund niemand mehr hin. Niemand sollte dort heute oder in nächster Zeit noch hin, den Grund kannte ich nicht. Aber hier war es auch ruhig, niemand der einen danach fragte, was man fühlte.
Lynn setzte sich neben mich und sah aus dem Fenster vor uns in den Regen. Nur der Gang zur Station lag zwischen uns und dem Regen. Nur ein paar Schritte trennten uns von der Welt dort draußen und doch schien sie so unerreichbar...

,,Warum-", wollte ich beginnen, aber Lynn legte mir sanft aber bestimmt die Hamd auf den Mund. Zuerst wollte ich mich wehren, aber ich sah bloß in Lynns Augen. Dieses mal vertraute ich ihr. Sie nickte und nahm die Hand runter. Dann atmete sie tief durch und sah auf ihre Knie. Kurz blieb sie so sitzen, aber dann sah sie wieder zum Femster.
,,Ich kenne deine Frage, Nina. Aber die Antworten die du gleich bekommst werden nicht schön sein. Und ich schäme mich für mich damals, für jede Schwäche. Ich hasse mich für meine Reaktionen und mein Ich. Und trotzdem stehe ich dahinter. Auch wenn es unmöglich zu glauben scheint...", began sie und ihr Blick wurde glasig.

Ich nickte einfach und sah Lynn weiterhin an. Wollte einfach nur Antworten, egal was sie waren. Ob schön oder grausam. So waren wir Psychos nun einmal.
,,Stell dir einmal vor, dass du schon seit ein paar Monaten mit Agressionen kämpfen musst, weil dein Leben gerade komplett eskaliert. Weil plötzlich deine große Schwester einen schweren Autounfall hat, die Schulnote immer schlechter werden und deine Freunde sich abgrenzen", Lynn sah kurz zu mir und lächelte traurig, ,,Wenn du dir das vorstellen kannst, weißt du eine Antwort..."

,,Und weiter?", fragte ich und strich über meinen Handrücken. ,,Ich habe die Wut an meinen Klassenkameraden ausgelassen und meinem Leben innerlich geschadet", sagte Lynn und ihre Stimme brach fast, ,,Ich habe mir selbst nicht mehr getraut und wollte einfach nur diese Welt zerstören. Und vermutlich ist das der Grund gewesen, weswegen ich heute hier sitzen muss anstatt dort draußen normal zu leben."
Sie brach ab und sah kurz nach oben, atmete tief durch und sah mir dann ins Gesicht. ,,Nina, ich weiß, dass wir uns ähnlich sind, aber ich weiß auch, dass dank dir nicht deine beste Freundin für immer im Rollstuhl sitzen wird..."

Ich spürte, wie sich meine Kehle zuzog und mein Hals trocken wurde. Jeder Herzschlag schien das einzige zu sein, was noch da war, das einzige das die Stille überbrückte. Ich wollte etwas fragen, aber Lynn war schneller.
,,Ja, ich habe meiner damalige beste Freundin die Freiheit geraubt zu Gehen. Ich bin dafür verantwortlich, dass sie nie wieder einen Schritt machen wird und für immer an etwas gebunden ist", flüsterte Lynn und ich sah Tränen in ihren Augen. Aber sie ließ diese nicht zu und legte bloß den Kopf schief.

,,Wir hatten eine Arbeit wieder und ich eine sechs. Und sie eine eins. Neid ist dumm und sinnlos, aber in diesem Moment war es mir egal. Sie ging zu mir und zu diesem Zeitpunkt waren wir schon lange Feinde, ohne einen Funken Freundschaft. Und dann hat sie mir Dinge an den Kopf geworfen, die ich nie vergessen werde. Und ihre Clique hat das auch getan", Lynn seufzte und ich sah die Überwindung, die all diese Worte sie kostete.
,,Ich konnte nicht mehr und bitte denk jetzt nichts dummes von mir, das kann ich selber. Ich habe sie die Treppe heruntergestoßen und die letzte Stufe traf ihren Rücken...", flüsterte Lynn und ich sah die Tränen. Aber sie ließ sie immer noch nicht zu.
,,Verstehst du jetzt, warum ich weg möchte? Ich habe Angst, dass ich es einem anderen Menschen auch antue. Denn meine Wut kann niemand kontrollieren, auch ich nicht..."
Das stimmt, das ist unsere Krankheit...

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt