Kapitel 199

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PoV Nina

,,Um viertel vor eins im Eingangsbereich?", fragte ich und sah Anica zu, die bereits die nächsten Treppenstufen hinauflief, dann aber innehielt und nickt. ,,Ja", dann ging sie weiter und ich bog in den Flur meiner Station ab. Er war leer. Vermutlich hatten die meisten gerade Theraphie oder waren noch beim Essen. Ich beeilte mich in mein Zimmer zu kommen und schloss die Tür. Dann setzte ich mich auf mein Bett und holte dann die Risetasche unter meinem Bett hervor. Ich öffnete die rechte Seitentasche und zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor. Kurz hielt ich inne, dann schob ich die Tasche zurück unter das Bett und rückte an die Wand zurück.

Ich lehnte mich an die Wand und starrte auf das Blatt in meinen Händen. Es war alt und doch wusste ich fast auswendig, was darin stand. Nur konnten diese Worte mich wieder zerstören. Wie immer, wenn ich sie las. Sie brannten sich in mein Gedächnis, schmerzten. Diese Worte riefen Hass und Wut hervor. Zogen sich wie Narben durch meine Gedanken und doch las ich sie mir immer wieder durch. Um mich an jenen Tag zu erinnern. Diesen verdammten Tag an dem ich alles verloren hatte, vor allem mich selbst.

Ich faltete es auf und sah auf die schwarzen Buchstaben. Jeder war auf das Blatt gedruckt, tief in das weiße Papier. So tief, wie die Worte in mein Herz stachen. Und der Gedanke daran schmerzte. Ich wollte die Worte nicht lesen, wollte nicht wieder zwischen den Erinnerungen ertrinken. Aber die Buchstaben zogen mich an, baten mich darum sie zu lesen. Mir wieder einzuprägen, warum ich hier war und das es besser war. Diese Worte zeigten mir, was ich gewesen war. Stachen mit der Wahrheit in mich, wie ein Messer. Immer und immer wieder. Ließen mich schreien, stumm. Ließen mich erinnern, was am schlimmsten war.

Und dann las ich die Worte doch, den verdammten gesamten Zeitungsartikel. Las, wie ein Passant am Morgen mitbekam, wie sich zwei Jugendliche stritten. Wie er auf die nächste Straße trat und dort ein Mädchen über einem anderen knien sah. Wie dieses Mädchen das andere schlug, es anschrie und mit tränenden Augen über dem anderen kniete. Wie das rothaarige Mädchen dem Blonden eine Klinge vors Gesicht hielt. Sie anschrie und sich diese dann selbst über den Arm zog. Nicht allzu tief, aber sie verzog das Gesicht. Dann schrie sie das Mädchen wieder an, schlug sie, schrie sich selbst an-

Ich legte das Blatt weg. Die letzten Zeilen kannte ich. Ich erinnerte mich daran. Und die Schmerzen kamen wieder hoch. Ich hatte das nicht tun gewollt, aber ich hatte die Kontrolle verloren. Ich hatte mich verloren. Die Bilder, wie Johanna unter mir schrie, das Gesicht bei jedem Schlag verzog, zogen vor meinen Augen entlang. Wie ich mir die Klinge selbst über den Arm zog, wie ich keine Tränen verstecken konnte. Die Erinnerung, wie ich mich selbst anschrie, was ich da tat. Wie ich die Klinge wegschmiss und Johanna schlug. Ihr meine Worte ins Gesicht schrie, mich hasste, was ich da tat.

Und dann die Erinnerung, wie ich von ihr runterging und aufstand. Wie ich Johanna musterte, das blutige Gesicht, die geschwollenen Augen, die blauen Flecken und das schwache Atmen. Wie ich neben ihr zusammenbrach und den Tränen erneut freien Lauf gab. Wie ich mich innerlich anschrei, was ich da getan hatte. Ich hatte die Klinge gesucht. Ich hatte mich selbst verletzten wollen, wie Johanna. Und sie hatte es getan, weil sie mit meinen Ausbrüchen nicht mehr klargekommen war. Und als ich das erfahren hatte, hatte es dort, auf der Straße geendet. Über sie gebeugt, sie schlagend und anschreiend. Was für ein Monster war ich nur gewesen?! War ich dieses Monster immer noch?!


Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt