Kapitel 195

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PoV Fenja

Ich stand auf und ging aus dem Zimmer hinter Frau Zynk hinterher. Frau Tölke folgte uns zögerlich und ich spürte ihren Blick auf mir liegen. Jeder Schritt schien falsch in diesem Moment und schließlich blieb ich einfach stehen. Ich hatte keinen Hunger. Ich wollte nichts essen. Vielleicht wollte ich auch einfach hungern und mir somit Schmerzen zufügen. Denn Kinnies Klinge hatten sie mir natürlich abgenommen. Sie hatten sich meine Arme angeschaut. Ich hatte wieder auf meine Narben und Wunden sehen müssen und das Brennen darin war wieder da gewesen. Zog sich den Arm hoch und schrie mich an, wie scheiße ich war.

Ich hasste jeden Schnitt und doch brauchte ich sie. Brauchte die Schmerzen und das Gefühl noch zu leben. Denn irgendwann würde ich mich umbringen. Die Tabletten, die sie mir gaben machten alles nur noch schlimmer. Sie zerfraßen meine Gedanken und bereiteten mir Kopfschmerzen. Sie lähmten meinen Körper und raubten mir den Atem. Die Medikamente verursachten Krämpfe und riefen Bilder von den unzähligen Suizidversuchen hervor. Von Klingen. Von Tabletten. Von Hochhäusern. Von Autobahnen. Von Brücken. Von Glasscherben. Von Schlingen. Von Bahngleisen. Von der Pistole, die sie mir geklaut hatten und dessen Schuss durch meinen Arm gerast war.

Er hatte ihn durchbohrt und doch war die Kugel nicht tief genug gewesen. Menschen hatten den Schuss gehört, dumme Menschen, die mich gerettet hatten. Vielleicht wäre ich wenigstens schnell verbluetet, bis mich jemand gefunden hätte. Und ich hasste mich dafür mir die Kugel nicht einfach in den Kopf geschossen zu haben. Wie dumm war ich bitte gewesen? Danach war ich zum zweiten mal in eine Klinik gekommen. Aber dort hatte ich es immer wieder versucht, bis ich übergangsweise entlassen worden war. Und darauf waren weitere Versuche gefolgt, bis sie eine Lösung hatten und mich hierher brachten. Und das war schon mehr als zwei Jahre her.

Trotzdem folgte ich der Psychologin zum Essraum und musterte die anderen Jugendlichen, die an ihren Tischen saßen und ihr Frühstück aßen. Kaum einer von ihnen weigerte sich. Nur ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren sah angeekelt auf das Brötchen vor ihr. Aber ihr Körper sah anders aus als der von Anna damals. Anna war viel dürrer gewesen. Und Annas Augen waren immer traurig gewesen, ganz anders als die der anderen Magersüchtigen. Und Anna hatte sich trotzdem sofort mit Nina, Anica und Jana verstanden. Anders als ich. Ich würde nie zu irgendeiner Gruppe hier gehören.

Aber ich freute mich für Anna. Sie hatte es verdient hier rauszukommen. Ich müsste sie eigentlich dafür hassen, dass sie mir schon zweimal das Leben gerettet hatte, aber das konnte ich nicht. Irgendwie war ich ihr sogar fast dankbar dafür. Denn so hatte ich erfahren, das das Leben sehr wphl noch schlimmer werden konnte. Durch sie hatte ich kurz einmal an Paula denken können, auch wenn siese Gedanken mich noch mehr umbrachten. Und ich hatte ihren Abschiedsbrief lesen dürfen. Auch wenn der meine Gedanken ganz gebrochen hatte. Und er hatte mir gezeigt, dass es nie wieder wie früher sein würde. Nie wieder...

Aber jetzt wollte ich sterben, jetzt hielt mich nichts mehr hier. Die einzige Person, die das getan hatte, war schon vorrausgeeilt, weil diese scheiß Psychologen ihr ihre Lügen abgenommen hatten. Warum nahmen sie sie mir nicht ab?! Warum hatten sie Paula geglaubt und nicht mir? Sie hatten sie getötet, zwei Leben ruiniert und wunderten sich jetzt, warum sie einander folgen wollten? Die eine war vor einen verdammten Zug gesprungen und die andere musste leiden und in einer Psychiatrie leben, obwohl es schon lange keine Hoffnung mehr gab. Und sie hatten diese zwei Leben gänzlich zerstört, für immer zerrissen. Wer will dann schon noch weiterleben...?




Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt