Kapitel 117

94 10 1
                                    

PoV Fenja

Ich setzte mich auf mein Bett und lehnte den Rücken gegen die kalte Wand hinter mir. Es war alles wieder da, die Gedanken an Paula und die grauen Gedanken, die alles bedeckten. Und ich bereute es mir gestern nicht einfach ein Ende gesetzt zu haben. Ich zog mir die Kapuze auf und versteckte so die aufkommenden Tränen. In diesem Moment wollte ich nur noch sterben. Geschlafen hatte ich nicht. Ich hatte nur die ganze Nacht daran gedacht, wie ich mir das Leben nehmen konnte, ohne das es jemand bemerkte. Und ich hasste mich so sehr dafür, dass ich gestern gezögert hatte, dass ich es jetzt einfach tun könnte.

Ich hob kurz den Kopf und sah Frau Tölke ausdruckslos in die Augen. Sie hatten mich gefunden, um knapp vier Uhr morgens war eine Psychologin ins Zimmer geplatzt und sofort waren dort unzählige Pflegerinnen gewesen. Sie hatten über mich geredet, aber ich hatte sie einfach ausgeblendet. Meine Gedanken waren zu dunkel gewesen. Und ich hatte mich zu sehr gehasst. Dann war Frau Tölke wieder hiergeblieben und hatte gewartet, bis ich "eingeschlafen" war. Aber ich hatte nicht geschlafen, nur wieder so dagesessen und mir die Glasscherbe zurückgewünscht, damit ich sie mir einfach in den Arm rammen konnte...

Hunger hatte ich nicht, wollte eigentlich nur noch sterben. Jeder Atemzug schien falsch und jeder Herzschlag schrie mir entgegen, dass ich noch lebte. Und dabei musste ich immer an Paula denken. Es hatte keinen Brief gegeben, keine letzten Worte. Sie war alleine dort auf den Schienen gestorben, weil diese scheiß Psychologen ihrer Maske getraut hatten. Weil sie sich hatten täuschen lassen! Sie hatten sie umgebracht, ihr das Leben genommen. Am liebsten wäre ich jetzt auf Frau Tölke losgegangen und hätte meine vernarbten Hände in ihr Gesicht geschlagen. Aber ich wusste trotzdem, dass Paula auch hier gestorben wäre, nur langsamer.

Ich musste an die vielen Tage denken, an denen wir einfach nur so auf unseren Betten gesessen hatten und nur unseren Gedanken nachgegangen waren. Wir hatten nicht immer geredet, die Gedanken hatten es getan. Würde ich anders denken und handeln, wenn sie noch leben würde? Vielleicht, ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich es nicht jeden Tag versucht hätte ihr zu folgen und mir noch mehr Narben zuzufügen. Und ich hätte vermutlich aufgehört mir das Leben nehmen zu wollen, weil ich nicht gewollt hätte, dass sie um mich trauern muss. Obwohl ich nicht wusste, ob sie es getan hätte...

Wir hatten uns nahe gestanden, waren auf irgendeine Art Freundinnen gewesen und uns immer verstanden. Hatten ohne Worte zusammen unsere Narben betrachtet, nebeneinander gesessen und über unsere Gedanken geredet. Und wenn der andere sich umbringen wollte, hatten wir einander gerettet. Danach hatten wir uns wieder zusammen geritzt und die Bestrafungen in Kauf genommen. Und dann hatten wir wieder nur geschwiegen, zusammen und doch alleine. Aber ich hätte ihr jede Klinge aus der Hand geschlagen, jedes Messer eher in meine Haut gestochen, wenn sie weitergekämpft hätte. Ich war immer bereit gewesen zu sterben, vielleicht hatte ich es nie geschafft, weil ich wollte, dass Paula weiterlebte.

Aber jetzt, wo sie tot war, konnte ich aufgeben und ich wollte es gerade nur noch. Jetzt zu sterben schien mir die beste Option. Jetzt zu gehen, wo mich niemand mehr brauchte, mich niemand verstand. Ich würde es vor Frau Tölke tun und ihr in die Augen sehen, wenn ich starb. Ihr zeigen, dass ich gesiegt hatte, nach einem unfairen Kampf. Und vielleicht würde ich wieder einmal lächeln, weil ich es geschafft hätte. Denn selbst ein falsches Lächeln hatte ich seit gut einem Jahr nicht mehr aufgesetzt. Ich will nur noch sterben...

Psychiatrie - Lasst uns zusammen sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt