Ehrlichstett, Dezember 2015
Tamara strampelt mit dem Fahrrad durch die eisige feuchte Luft zum Supermarkt. Der Tante Emma Laden hat schon zu und sie hat Cola vergessen. Geht nicht. Geht gar nicht. Sie weiß es, sie wird keinen Abend ohne Cola überleben. Und Katzenfutter kann sie gleich auch noch mitbringen. Dann kann Fußball vielleicht oben schlafen in ihrem Zimmer, dann ist sie nicht so allein.
Nach seinem fulminanten Einstieg, nach ihrer endgültigen Trennung von Jakob, hat Devon sich mal wieder nicht mehr blicken lassen. Sie seufzt. Warum auch, warum auch hat sie geglaubt, dass sich etwas ändert? Dass Devon sich ändert?
Und Jakob, das ist jetzt zu Ende. Wär es aber ohnehin gewesen, denkt sie trotzig, auch ohne Devon.
Wir haben uns das alles immer so schön vorgestellt, auch wenn wir wussten, dass es naiv ist und sehr wahrscheinlich nie so eintreten wird. Weil die Dinge ja immer so leicht zerbrechen, weil Trennungen ja so vorhersehbar sind und es nur noch darum geht, wie lange man es schafft und nicht für immer. Für immer, das traut man sich kaum noch auszusprechen. Wir haben uns die unfassbare Niedlichkeit unserer Kinder vorgestellt, wir haben uns ausgemalt, was für ungemein spaßige Dinge wir mit ihnen unternehmen würden, wir haben schon den Garten gesehen, in dem sie herumtollen und das Haus und das riesige Bett in dem wir uns zum Gruppenkuscheln treffen.
Wir wussten, dass es naiv ist, aber wir haben drauf geschissen und es uns trotzdem vorgestellt.
Und jetzt sind wir so vorhersehbar, wie alle anderen.
Jetzt sind wir nicht mehr. Keine eingeschworene Gemeinschaft, keine Turteltäubchen, keine stillen Verbündeten. Wir sind Exfreund und Exfreundin. Schlicht und ergreifend! Nicht mehr als das.
Erst als sie das Fahrrad vor dem Supermarkt abstellt, merkt sie, dass sie geweint hat. Dass ihre Wangen feucht sind und kalte nasse Tränen an ihnen heruntergelaufen sind. Unwillig wischt sie sie weg, als sie eine Stimme von hinten hört:
„Hey, wassn mit dir los?"
Kylie, in bonbonrosafarbener Jacke mit einer dicken Einkaufstüte an der Hand.
„Oh, Kylie. Was machst denn du hier? Seit wann geht du einkaufen?"
Kylie zögert kurz, stutzt und sagt dann: "Ach so, das. Weil ich ja im Heim essen kriege. Ne, wir haben so ein Projekt vor Weihnachten. Ichkümmere mich um einen alten Mann gehe für den einkaufen und putzen und so."
Tamara muss wider Willen lachen."WAS? DU??"
Auch Kylie lacht nun ihr unbeschwertes Kinderlachen: „Ja blödsinnige Idee. Ist von der Betreuerin so ein Christenkram mit Nächstenliebe und so. Aber egal. Wasn mit dir? Warum heulst du? Isses wegen Jakob?"
Tamara lässt den Kopf sinken und konzentriert sich darauf das Fahrradschloss am Reifen zu befestigen.„Ja," murmelt sie, „irgendwie"
„Wie, irgendwie?" bohrt Kylie. „Wir ham ewig nicht gequatscht. Wasn los? Mal wieder Stress?"
„Der Sex hat gewonnen!"
„Häh?"
„Ja,"Tammi sieht Kylie an und nickt trotzig: "Ja so isses. Ich bin jetzt mit wem anders zusammen. Einfach weil der besser im Bett ist. Mehr Spannung, mehr Kribbel. Mehr Bauchschmetterlinge. Einfach mal meine Zukunft wegen so einer Kleinigkeit aufgegeben."
„Quatsch!" Kylie stellt die Tüte ab und legt den Arm um sie." Sex ist keine Kleinigkeit."
„Na aber gegen Liebe? Gegen Liebe ist es doch unwichtig oder?"
„Aber du hast es doch versucht, mit Jakob. Du hast es doch nicht einfach weggeworfen, einfach so. Hat halt nicht geklappt. Ist so – geht halt nicht."
„Aber ich weiß nicht, ob wir nicht doch daran hätten arbeiten können. Es kann doch nicht sein, dass man nicht daran arbeiten kann. Aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich war fix und fertig, ging einfach nicht mehr. Ich habe die Leichtigkeit vermisst, ich habe es vermisst, Devon zu vögeln."
„Devon?" Kylies Kopf fährt hoch.
„Klar, ich dachte du wüsstest das, wer denn sonst? Die Typen stehen bei mir ja nicht gerade Schlange, also ist die Auswahl beschränkt. Und irgendwie klebe ich an dem. Dabei kann ich ihn noch nicht mal besonders gut leiden. Ist doch irgendwie krank, oder?" versucht Tammi es leichthin.
„Mann, wir haben uns echt lange nicht gesehen. Müssen mal wieder son Couchnachmittag machen, dann musst du mir alles erzählen. Ist so verdammt kalt hier, jetzt." Kylie lässt Tamara los und reibt ihre Hände aneinander.
„Ja, ist klar, bis dann mal," Tamara tritt einen Schritt zurück und geht auf die Supermarkttür zu, die sich selbsttätig öffnet und sie in einem Schwall feuchtwarmer Luft einhüllt und einen Bogen weiches Licht über Kylie spannt. „Lass dich mal blicken. Couch ist immer da. Und..." sie grinst" ...Viel Spaß mit deinem Sozialprojekt!"
„Was?"Kylie blickt sie für einen Moment verwirrt an." Ach so, der Mist da. Ja, klar. Mach ich und – ich melde mich! Versprochen. Bald!"
Sie nimmt ihre Tüte hoch und wendet sich ab.
Mit schnellen Schritten geht sie über den Parkplatz auf die Bushaltestelle zu, die Schultern hochgezogen in der rosa Jacke gegen die Kälte.
Tamara bleibt noch einen Moment in der Tür stehen und sieht ihr nachdenklich nach.
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Libertas Haus, das Schloss
ParanormalWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...