Die ersten wärmeren Tage bringen eine Ahnung vom Frühling. Ein sanfter Wind streicht über die gefrorene Fläche des Schlossteiches von Ehrlichstett und trägt die ersten Düfte mit, nicht mehr den kalten stahligen Geruch des Winters.
Rabena steht auf dem Eis.
Sie ist einfach hinausgelaufen auf die knirschende Fläche, die noch mit Schnee bedeckt ist, der aber an manchen Stellen schon schmilzt und in kreisrunden Löchern das graue Eis durchscheinen lässt. Es knackt und knirscht unter ihr, wenn sie sich bewegt, aber das ist ihr egal.
Sie spürt eine unbändige unsinnige Freude.
Sie ist in Ehrlichstett, alleine hierher gefahren , alleine, ohne Hugo, in Ehrlichstett, in dem grauen gehassten Schloss, im grauen kalten verhassten Winter, auf dem Eis, das jeden Moment brechen kann. Sie war in Berlin, bei Freunden, dann in Magdeburg, hat den mit dem Einstecktuch getroffen und ist nun auf dem Rückweg nach München,und sie ist in Ehrlichstett, sie hat hier angehalten, ist ausgestiegen, unangekündigt, unverhofft, von keinem erwartet, spontan, von der Autobahn abgefahren zum Schloss, das alte Auto auf dem Parkplatz abgestellt. Das Schloss besichtigt, wie eine Fremde,das ungeheizte alte graue Gemäuer, der Geruch nach staubigen Teppichen und alten Möbeln, die Feuchtigkeit der Wände, die unbewohnten Räume. Ihr Schritt hallt im Treppenhaus.
Der zugefrorene Schlossteich. Das verrückte kleine Lied, das plötzlichin ihrem Kopf ist. Das knackende Eis, und die verrückte Freude.
Sie schiebt die dünne Schneeschicht auf dem Eis zusammen und rollt eine Kugel. Sie fängt an zu schwitzen, sie öffnet ihrem Mantel, sie rollt die Kugel immer größer und größer.
Sie schiebt erneut und rollt eine zweite Kugel, größer.
Mit ganzer Kraft hebt sie die Kugel auf die erste. Sie lockert ihren Schal. Ein paar Kinder sind am Rand des Teichs stehen geblieben und sehen ihr gebannt zu
„Sei vorsichtig," ruft eines. „Das Eis kann einbrechen!"
Sie lacht nur und rollt eine dritte Kugel. Sie summt das Lied und lacht und hebt die dritte Kugel auf die anderen zwei. Eine rote Katze läuft vorbei, über das Eis, bleibt kurz bei ihr stehen, sieht sie an, maunzt leise und geht dann weiter, quer über den zugefrorenen Teich.
Rabena zieht ihre Mütze aus, die kratzige graue Wollmütze und setzt sie dem Schneemann auf. Und den Schal, auch den zieht sie aus, ihr ist warm, sie braucht ihn nicht. Auch ihren Schal legt sie dem Schneemann um.
Die Kinder, die am Rand stehen klatschen. Sie beklatschen ihren Schneemann. Und ihren Mut, das brüchige Eis zu betreten.
Vielleicht.
Langsam geht sie.
Ihren Schneemann lässt sie zurück. Für Abel.
Vielleicht.
Vielleicht für Abel, für die Kinder. Vielleicht.
Ein Zeichen, vielleicht. Ein Zeichen vom Mut. Vom Mut. Das brüchige Eis zu betreten. Vom Mut. Etwas Verrücktes zu tun, etwas das keinen Sinn macht.
Abel, der würde das verstehen. Denkt sie.
Sie steigt in ihr Auto und fährt wieder.
Weiter. Nach München.
Nach Hause.
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Libertas Haus, das Schloss
ParanormalWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...