Ehrlichstett, 2017, 16 Uhr 21

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Langsam wendet Jakob das Auto von der Hauptstraße ab und biegt auf den Schlosshof ein.

Wie sich alles verändert hat denkt er. Wie lähmend, das Gefühl, hier auf den Hof zu fahren, den Wagen abzustellen, den Schlüssel abzuziehen, auszusteigen.

Er fühlt sich schwer, fast wie krank, unwohl, dumpf, verloren. Was früher wilde Freude auf Tammi, auf die fröhliche Stimmung, den See, ja sogar die Pferde war, ist jetzt nur einfach deprimierend, lähmend, zäh, wie Gummi. Was ist nur geschehen? Wann hat sich alles so verändert? Und warum konnte er es nicht aufhalten?

Er müht sich, aus dem Auto auszusteigen, irgendwie alles grau und hoffnungslos. Selbst die nervigen Raben, mit ihrem unstillbaren rauen Gekrächze, selbst die sind verschwunden oder nur einfach still,sonderbarerweise.

Es ist, als ob selbst das Schloss sich verändert hat, durch den verlorenen Prozess, die verlorene Hoffnung auf ein Errichten der heilen Welt in Ehrlichstett. Es sitzt grau und schwer, wie ein lauernder Hund vor ihm und scheint ihn mit kranken trüben Augen anzustieren.

Langsam geht er auf das Schloss zu. Wo sie wohl sind? Es ist später Nachmittag, Tammi wird mit Henry wohl drin sein. Sonst wäre auch Hund draußen, der kleine Wirbelwind, der als einziger die gute Laune nicht verloren zu haben scheint.

Er betritt den Schloss und schiebt die schwere Holztür auf, geht das gewundene Treppenhaus hinauf. Es scheint immer dunkler zu werden, der blasse Frühlingstag scheint vorzeitig in eine graue Nacht zu verschwinden.
„Tammi! Henry!" Ruft er, als er die Wohnung betritt. Komisch, die Wohnung offen und keiner da. Keine Reaktion, keine kleinen kratzenden Trittchen von Hund, kein Gegurgel, Getapse von Henry. Er fühlt sich eigenartig. Fremd, sonderbar. Wann war er das letzte Mal hier? Die Wohnung scheint ihn abzuweisen, wie tot und leer, wie lange verlassen, ihn anzuklagen – wo warst du? Wann warst du hier?

Wo sind sie?

Suchend läuft er durch die Räume, eine zähe Erinnerung verfolgt ihn, Angst, er zieht sein Handy aus der Hosentasche und tippt Tammis Nummer.


„Tammi?" Wegen des schlechten Empfangs knistert Tammis Stimme aus dem Lautsprecher, Wortbrocken, Wortfetzen. Abgehackt, verzerrt.

Ist das überhaupt Tammi? Es klingt als würde jemand schluchzen: Was ist da los, verdammt?
„Tammi?" Er brüllt nun, aber das verbessert den Empfang nicht.

"Wo bist du?" Laut, sehr laut. Die leere Wohnung hallt und dröhnt, spiegelt seine Stimme, wirft sie zurück, spielt mit ihr. Dazwischen Geknister, Geraschel, keine verständlichen Worte. Gartenhaus? „Im Gartenhaus?" brüllt er und rennt gleichzeitig los.

Er stürzt die Stiegen hinab. Das Handy gibt einen Pfeifton von sich, der anzeigt, dass der Empfang nun völlig zusammengebrochen ist. Er rennt aus dem Schloss, jagt um das Gebäude, hinten herum, hinaus zum Gartenhaus.

Da ist sie - Tammi!
Sie kommt ihm entgegen. Ihr Haar ist ganz zerrauft und voller Blätter und Spinnweben, das ist das erste, was ihm auffällt und ihr Gesicht, tränenverschmiert, ihre Augen, ihr Blick, verschwommen, jähe Verzweiflung!


„Tammi! Was ist los?"


„Ich kann Henry nicht finden," schluchzt sie, "Henry ist weg. Und Hund!"

Sie fällt ihm in die Arme, umklammert ihn, schluchzt hilflos. „Ich war schon überall, ich suche schon seit gefühlt Stunden. Ich rufe und schreie rum aber er kann ja nicht antworten, aber auch Hund, ich weiß nicht, wo sie sind."

Die Schluchzer lassen ihren schmalen Körper erbeben, aber er muss sich zusammenreißen um sie nicht zu schütteln und zu drängen.

Verdammte, verdammte Scheiße! Was einem kleinen Jungen hier alles passieren kann, auf diesem Gelände und die Leute, denkt er, die Leute die hier herumschleichen.

Und – hätte sie nicht besser aufpassen können? Denkt er.

Er schluckt seine Wut herunter. Beschuldigungen helfen auch keinem, er ringt um Fassung.

„Wo hast du überall gesucht? Und, wer ist noch hier? Wer könnte sie gesehen haben?"


„Keine Ahnung. Überall, ich war überall, ich weiß nicht!"


„Tammi!" Energisch hält er sie von sich und sieht ihr in die Augen. „Tammi," wiederholt er bemüht ruhig. „Reiß dich jetzt zusammen! Wir müssen sie finden! Also sag mir..!"


„Verdammt!" Schreit sie ihn an, „meinst du das weiß ich nicht. Und ich weiß auch, dass ich Schuld bin. Ich hätte aufpassen sollen, denkst du das weiß ich nicht?"
Wut lodert in ihren Augen auf.


„Tammi, reiß dich jetzt verdammt noch mal zusammen, wir müssen logisch denken, sonst wird das nichts. Wo hast du sie das letzte Mal gesehen? Und wen könnten wir fragen? Wer ist da? Wen können wir anrufen? Wo sind Dieter und Desi? Ist Greta vielleicht da? Und dann die Behörden, die Polizei! Lass uns das Ganze logisch angehen, sonst wird das nichts!"


Tammi sieht ihn an und nickt.


Libertas Haus, das SchlossWo Geschichten leben. Entdecke jetzt