Das Schloss war immer offen.
Jeder kam da rein, sehr zum Unmut des Grafen, das war bekannt.
Also geht er einfach in den Innenhof, die untere Tür, unverschlossen. Wo sie wohnt, das weiß er. Also, die Stiegen hoch, die Wohnungstür unverschlossen, ein Lächeln breitet sich auf seinen Zügen aus, die erste Tür, ein prüfender Blick, unverschlossen und so weiter und so weiter.
Wirklich sehr, sehr leichtsinnig, die Leute hier.
Es könnte jeder hier rein, jeder.
Die letzte Tür, Musik dahinter, die das leise Quietschen der Angeln überdeckt, als er sie öffnet.
Schummriges Halbdunkel, gemütlich, Corinne sitzt unter der einzige Lampe auf dem Sofa, ein Buch auf dem Schoß und liest.
Er sieht ihren Kopf, von hinten, was gut ist. Er schließt die Tür wieder und nähert sich ihr langsam, als irgendetwas, sein Schatten, eine Bodendiele, eine Ahnung, sie herumfahren lässt.
Ihr Blick weitet sich verwirrt, im selben Moment holt sie Luft, um zu schreien, doch schon ist er bei ihr, hat eine Hand auf ihrem Mund und drückt mit dem freien Unterarm ihre beiden Handgelenke fest auf ihren Schoß, auf das Buch auf ihrem Schoß. Er lehnt sich über die Sofalehne und flüstert ihr ins Ohr:
"Corinne, Corinne, Corinne. Dich hier aufzuspüren ist wirklich einfach. Du enttäuschst mich!"
Sie versucht, die Hände frei zu bekommen, ihm die Ellenbogen in den Bauch zu rammen, in seine Hand zu beißen. Er drückt fester zu und reisst ihren Kopf zurück, bis ihr Hals nach hinten gebogen ist. Er spürt den Druck ihrer Zähne auf seiner Handfläche. Er beugt sich über sie, über ihren entblößt daliegenden Hals.
„Wenn ich so ein Vampir wäre, wie du mir das andichtest, in deiner Geschichte, so ein Zauberviech, dann würde ich da jetzt reinbeißen."
Sein Atemhauch streift ihren Hals, sie zuckt zusammen, ein irres tonloses Lachen füllt den Raum, seins.
In ihren Augen brennt nackte Wut, die Wut eines gefangenen Tiers, denkt er.
Wenn sie könnte, würde sie mich umbringen, denkt er.
„Keine Angst," er flüstert dicht an ihrem Ohr, seine Lippen streifen wieder ihren Hals. Er spürt, wie sie sich verkrampft, ein Würgen ihre Kehle spannt.
„Entspann Dich, Süße, ich tu dir nichts."
„Du bist nicht mein Typ!"
Kichern.„Ich wollte dir nur einen Tipp geben."
Sie spürt Feuchtigkeit an ihrem Hals, sein Speichel.„Einen guten Tipp!! Lege dich nicht mit mir an. Baby. Das verlierst du. Hör auf zu schreiben!"
„Das ist mein bester Tipp an dich."
„Hör auf mit diesem Blog und du kriegst nie wieder Besuch von mir!"
„Hast du das verstanden?"
Er drückt fester zu.
Corinne schnappt nach Luft. Sie versucht durch den Mund zu atmen, aber es geht nicht, sein Druck verhindert es.
Er lacht wieder.
Er hebt den Kopf und sieht sie lange an.
Unbewegt.
"Ich denke, du hast verstanden. Ich schicke dich jetzt ins Traumland, dann kannst du noch ein bisschen nachdenken. Nimm dir Zeit und denke gut nach. Sonst bist das vielleicht nicht mehr nur du, den ich besuche. Mir fällt da noch jemand ein, der mehr mein Typ ist. Und glaube mir, das willst du nicht!"
Sein Druck auf ihren Hals verstärkt sich. Corinne versucht sich aufzubäumen, aber sein Gewicht ist zu schwer. Sie sieht den Schemen seines Kopfes vor ihren Augen verschwimmen, das Zimmer, sie verliert die Welt, das Bewusstsein.
Verschwunden, leer, fort.
Und, ja - keiner glaubt ihr.
Die herbeigeholte Polizei, wer, was sie gesehen hat, was geschehen ist, wer zu Schaden gekommen ist, was gestohlen wurde?
Wie, nichts?
Wie, sie hat den Eindringling nicht besonders gut erkannt? Wie, ein Mann? Oh ja, das trifft auf 50% der Bevölkerung zu.
Wie, sie kann keine Personenbeschreibung abgeben? Wie, es ist nichts entwendet worden?
Wie?
Ob Frau Haalswor vielleicht ein bisschen überreizt ist?
Ob sie vielleicht das Bedürfnis hat, sich ein bisschen wichtig zu machen? Damit dann wieder etwas in der Zeitung auftaucht? Ob sie vielleicht Tatsachen schaffen will, die es nicht gibt, Straftaten erfinden und sie jemandem anzuhängen? Ob sie vielleicht...Ob sie vielleicht weiß, dass das auch eine Straftat ist?
Und ob sie denn jetzt Anzeige erstatten wolle.
Gegen wen, ...Unbekannt?
Man glaubt ihr nicht.
Man wird ihr nicht glauben. Keiner wird ihr glauben.
Corinne weiß es.
Sie sieht, wie man sie beobachtet und so tut, als hätte man sie nicht gesehen.
Sie kanndie Leute untereinander flüstern sehen. Sie weiß, was sie denken. Kein Rauch ohne Feuer, das denken sie.
Sie würde gerne eine Straße entlanggehen ohne den Wunsch zu haben, unsichtbar zu sein.
Das versteht man nicht wirklich.
Sie hat es selbst nicht geschätzt bis sie des nicht mehr hatte: Der Ruf ist das Wertvollste, was man besitzt. Der Ruf ist deine soziale Währung, deine Eintrittskarte in ein normales Leben.
Ohne ihn wirst du immer draußen vor der Tür bleiben.
Und der Ruf, der ist so leicht zu vernichten, so einfach.
Fast ein Kinderspiel.
Aber aufhören, aufhören zu schreiben, wird sie nicht. Nicht für ihren Ruf, nicht aus Angst, nicht um der Ruhe willen, der Sicherheit. Sie wird weitermachen und sehen, was geschieht, vorsichtig sein und sehen, was geschieht. Denkt sie.
DU LIEST GERADE
Libertas Haus, das Schloss
ÜbernatürlichesWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...