Halle/Saale, November 2016

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Langsam richtet Gerhard den Blick auf.

„Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?" Er kann die Worte nur mit Mühe sprechen. Es ist als ob er keine Luft mehr bekommt. Keinen Atem hat, seine Stimme zu tragen. Ihm ist schwindelig, kaum noch sieht er Zimmermanns blassen Blick, dessen helle, klare Augen.


„Doch," Zimmermanns Stimme ist leise, tonlos, ohne Melodie. „Ich wollte es Ihnen persönlich sagen. Deshalb habe ich es nicht geschickt. Ich hatte Angst, Sie..."

Er bricht ab.

Es gibt nichts mehr zu sagen.

Es ist so völlig, völlig unverständlich.


„Ich..."fängt er wieder an, "...in den langen Jahren meiner Tätigkeit, ich.... es tut mir leid!"


Zwischen ihnen liegt ein schmaler Stapel Papiere.

Das Urteil.

Ein kurzer, fast höhnischerText.

Die Vorlage des Vereins, ein Witz. Falsche Zitate des Schriftsatzes, höhnisch ausgeschlachtet, kleine nette Ponyfreunde, das Vereinsziel verlacht, verspottet, der Vertrag, an den der dumme Verein sich gehalten hat, für ungültig erklärt. Mit einem Streich, einfach ungültig. Das Papier nicht wert, auf dem er steht. Der Verein verurteilt, das Gelände sofort zu räumen, seine Renovierungen zurückzulassen, die ganze Arbeit, der Ausbau des Stalls, umsonst, illegal. Mit einem Wort. Mit einem Wort eines Richters. Verloren. Alles verloren.

Ein Name taucht auf und verschwindet wieder, in diesem Urteil, der eines hohen Regierungsmitliedes. Keiner weiß, wo dieser Name herkommt. Aber er steht dort. Im Urteil, hohnlachend, zeigt all die Machtlosigkeit auf, die der Verein hat.

Keine Revision zugelassen. DasUrteil ist also nicht anfechtbar.

Ist das das Ende?


„Es ist unfassbar." Zimmermanns Stimme ist noch leiser, wie ein Rascheln. "Dieses Urteil bricht jede Art von Rechtsfrieden. Es ist im höchsten Maße ungerecht."


Gerhard springt unvermutet auf. Durchmisst den Raum mit großen Schritten. Stößt an den Schreibtisch, ein Aktenordner knallt zu Boden.
„Ich bitte Sie jedoch, jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren. Es wäre töricht....ihm genau diese Art von Regelverletzung folgen zu lassen."


„Vorsicht ist der Vetter der Feigheit!" Gerhards Stimme ist laut und wütend.

Die Sekretärin streckt den Kopf zur Tür herein, zieht sich aber schnell auf einen Wink Zimmermanns zurück.


"Ich sage, wenn so etwas möglich ist, wenn so eine Art Allmacht, wenn so eine Art Regelverstoß möglich ist, dann hätten wir schon viel eher einschreiten müssen. Dann war unsere stillschweigend duldende Haltung von Anfang an der gröbste Unfug. Dann..."

Gerhard bricht ab.

In der folgenden Stille merkt er, wie erschöpft er ist. Sie haben verloren. Trotz aller Bemühungen trotz alledem. Sie haben verloren und es besteht wenig Hoffnung für eine Änderung, ein Revidieren dieser Entscheidung.


„Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen,"

Langsam geht Gerhard zur Tür:„Es war natürlich immer eine Denkmöglichkeit," sagt er, das kalte Metall der Türklinke in der Hand, "es war immer möglich, zumTeil, ein bisschen, einen Teil zu verlieren. Einbußen in Kauf nehmenzu müssen. Womit ich nicht gerechnet habe, ist mit so einem Urteil. So einem verlogenen, ungerechten Urteil. So einer unglaublichen Willkür, die einen – machtlos – zurücklässt."

Ohne eine Antwort abzuwarten geht er langsam aus dem Raum, schließt leise die Tür hinter sich. Im Flur riecht es schwach nach Kaffee. Er fühlt sich, als wäre er aus der Galaxie geschleudert worden, als schwebe er den Flur hinunter, schwerelos, im freien Fall, richtungslos.

Es bestand immer die Möglichkeit, dass sie verlieren. Dass alles in die Brüche geht. Dass sie den Machenschaften ihrer Gegner nichts mehr entgegenzusetzen hätten und diese Feinde waren solche, die einen geschwächten Zustand bewusst ausnutzen würden.

Allerdings war er sich des Sieges immer sicher gewesen. Sie waren die Guten, sie hatten alles richtig gemacht, sich an alle Absprachen gehalten, immer versucht, im Gespräch zu bleiben, immer tolerant, immer still, immer gefügig, immer freundlich, immer neutral. Selbst die letzten Ausschreitungen, der Angriff auf Linda, die Videoüberwachung, die erneuten Drohungen Beschimpfungen, der Unfall, das manipulierte Fahrzeug, all das, selbst all das hatte ihnen noch Recht gegeben, Recht gegeben, gut zu sein, gut zu bleiben.

Und jetzt sieht er überall nur Niederlage.

Er ringt nach Atem, den er nicht braucht und dessen Mangel ihn in Panik versetzt.

Er begreift, dass er sich selbst belogen hat

Von Anfang an hatte er geglaubt, es ginge ihm in diesem Streit um die Rettung des Vereins – obwohl das natürlich der Antrieb war, gab es noch eine andere Wahrheit, die sich unter dieser Absicht verbarg.


Es war sein Zuhause.

Das Gartenhaus, der Stall, das Gelände, die Wiesen, die sie dem Müll abgetrotzt hatten, die Ruine, aus der sie einen lichten freundlichen Stall gemacht hatten, mit großen hellen Boxen und Laufställen, das warme Wiehern der Pferde am frühen Morgen, wenn er zur Arbeit fährt, das Singen der Vögel in den Bäumen am Waldrand, die Katzenbabys, deren Spielen sie im Frühling zusehen, am Abend wenn die Arbeit getan ist, die Kinder das Gelände verlassen haben deren lautes Lachen und Spielen den ganzen Tag geprägt hat.

Das ist sein Leben geworden und er empfindet Liebe für all das, bis hinzum ungespülten Geschirr auf dem Tisch im Gartenhaus, bis hin zu den Pferdehaaren auf seiner Alltagskleidung. Und Angst, Angst vor dem Verlust.

Vielleicht hat er viel zu lange seine Tage unbekümmert verbracht, und für selbstverständlich gehalten, dass sie dort bleiben, dass alles so bleibt, wie er sich das wünscht. Weil sie die Guten sind, weil sie keinem schaden, weil sie alles richtig machen?

Unendlichkeit führt zur Anmaßung, denkt er. Vergänglichkeit ist der einzige Wegum zu schätzen, was einem geschenkt wurde.

Und jetzt? Denkt er. Und jetzt?

Wie soll ich das jetzt retten?
Wie kann man das noch retten, wenn jegliche Aussicht auf Gerechtigkeit verschwunden ist?

Wo kann der Weg jetzt langgehen?

Wie kann man noch den Glauben vermitteln?
Den Glauben an das Gute, das Richtige?

Um das es sich zu kämpfen lohnt?

Er weiß, dass er die Lösung finden muss, dass er den Weg wählt.

Denn die anderen, die denen er dieses Gerichtsurteil nun präsentieren ,erklären muss, die werden seinem Plan folgen.


Libertas Haus, das SchlossWo Geschichten leben. Entdecke jetzt