In der Ferne, Januar 2017

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Es ist Nacht, der finsterste Moment der Nacht bevor der Tag graut, die täglichen Geräusche des Hospizes verstummt, finsterste, stillste Nacht, als die Mumie die papiernen Augenlider hebt. Der Blick lange schon blind, die trüben Augen suchen im Nichts des stillen Raumes. Sie hat so viel gesehen im Laufe ihres langen Lebens, erst die eigenen gelebten Bilder und dann, in den Jahren des Trübseins und Blindseins, die Bilder der Erinnerung, die leuchtend in ihrem Kopf ihre blicklosen Augen füllen. Sie hat die hunderte Lebensjahre überschritten, ihr Mann, ihr Geliebter, ihre Söhne sind ihr im Sterben vorangegangen, ihre Urenkel kennt sie nur den Stimmen nach. Der Bürgermeister der Stadt hat sie geehrt, als sie schon längst bettlägrig und bewegungslos war, ihr Alter ist biblisch, einzigartig.

Der lange schon unbewegte Körper strafft sich, die dürren Lippen, die sich über dem zahllosen Mund verschlossen haben seit Jahren, flüstern ein Wort, wie ein Hauch, eine tonlose Melodie, ein leises Klirren.

Das Pferd füllt den kleinen Raum mit seiner Präsenz, es füllt ihn ganz aus, die Wände scheinen seine Seiten zu berühren, zum umschließen. Das zart erwachende, silbrige Licht des neues Tages lässt das braune Fell samten leuchten und warm glühen und die blickosen Augen der Mumie sehen etwas wie Flügel, die wie zarte Gespinste aus den Flanken des Tieres wachsen. Der Trakehner bäumt sich auf und und senkt dann den Kopf mit einem Schnauben zum Bett seiner Herrin nieder, wo die knöcherne Hand die weichen Nüstern berührt. Wie hundert Male zuvor von Hunderten Jahren streicht die Menschenhand über das vertraute Tier und ein Lächeln zeigt sich auf den so lange erstarrten Zügen der Mumie.

„Windgraf" flüstern die erkaltetem Lippen und der Name steht wie ein Hauch im leeren Raum.

Der Zeitpunkt, der Zeitpunkt ist gekommen, der Zeitpunkt der letzten Wahl, der letzten Entscheidung.

Windgraf ist gekommen, sie zu begleiten.

Dorthin, wo sie sind, sie, die auf sie warten, schon lange, der Mann und die Söhne, der geliebte Vater und der Freund, der Geliebte und Treulose. Dorthin, wo alle Schuld beglichen sein muss und ewige Vergebung herrscht. Dorthin, wo das harte Herz weich sein muss und lassen muss, geschehen, vergeben sein lassen muss, die Rechnung bezahlt, die letzte Bilanz ausgeglichen.

Die dürren Muskeln am Hals der Mumie ziehen sich zusammen, als die Unbeugsame sich zum letzten Groll aufrafft. Nein, vergeben, nie, der Fluch soll sie überleben, er soll Bestand haben, Vergebung ist nicht denkbar.

Langsam verschwindet die große Form des braunen Wallachs und die Mumie liegt wieder allein, allein im dunklen Zimmer, zu dem Zeitpunkt, an dem die Nacht am dunkelsten ist.

Eine Träne stiehlt sich aus dem vertrockneten Augenwinkel, als sie endlich gehen lässt, als sie dem Wallach nacheilt, als sie den Weg geht, den letzten, den er sie zu holen kam, als sie vergeben kann endlich vergeben, nach so lange Zeit.


Durch die kalten Steine von Libertas Haus, das verlassen und eisig in der erstarrten Winternacht steht, geht ein Raunen, ein Flüstern und die dürren trocknen Äste der Linde vor dem Haus wispern und rascheln, als ob sie eine Ahnung vom Frühling hätten, in finsterster Winternacht. Wäre ein Spaziergänger unterwegs, was im einsamen Grömlitz zu dieser kalten Winternachtstunde nicht der Fall war, hätte jemand das leere Haus passiert, so hätte er sich einbilden können, ein Pferd wäre wohl im Hof umhergaloppiert, das dumpfe Geräusch der Hufe, auf dem gefrorenen Boden. Und vielleicht hätte er eine Wesentheit gesehen, einen sonderbaren hellen Schein, vielleicht sogar die Form eines großen Braunen, der einem Schemen gleich über die Wiese unterhalb des Hauses galoppiert und mit seiner jungen Reiterin über den Zaun setzt.

Und verschwindet, in der Nacht, in der Nach, die hier am finstersten ist.


In Ehrlichstett seufzt Greta im Schlaf und sieht ihre Stute, Windfee, die goldene über eine leuchtend grüne Wiese, wehend und tanzend, wie ein Windhauch auf sich zu galoppieren, die Mähne zieht hinter ihr her, wie eine Lohe.


Im fernen München erwacht Rabena plötzlich und sieht sich erschrocken im dunklen Schlafzimmer um. Sie hatte einen seltsamen Traum, ein eisgraues Pferd, wild und ungebärdig, das fliegend gleich über Sprünge hetzt und in rasendem unkontrollierbarem Galopp unwegsames Gelände überwindet und sie, Rabena die Furchtsame, ohne jede Angst, wie im Rausch, auf seinem Rücken. Seewind, das Pferd ihrer Ahnin, sie kann sich nicht erinnern, woher sie diesen Namen weiß, aber sie weiß ihn, so sicher, wie ihren eigenen. Verwirrt legt sie sich zurück, als sich ihr klopfender Herzschlag beruhigt.


Renfeld, der Verwirrte, lächelt im Schlaf, als er spürt, wie die Hand des Meisters seine Stirn berührt, sanft und freundlich, weich und gütig, wie sie seine Sorgen wegstreicht und seinen verwirrten Verstand glättet. Ein kleines Lied erklingt in seinem Traum. Ein altbekanntes, vertrautes, vergessenes, erinnertes.


Und Tamara wacht auf, am nächsten kalten Wintermorgen, das Lied auf den Lippen, Marahs Lied, und sie könnte schwören, sie hätte von einem Jungen geräumt, einem Jungen auf einem schwarzen Pferd. Aber, das denkt sie, kommt, vor, dass sie von einem Jungen träumt. Und sie summt das kleine einfache Lied, als sie sich noch einmal in die warmen Decken kuschelt.





Libertas Haus, das SchlossWo Geschichten leben. Entdecke jetzt