„Hör dir das mal an!".
Es ist ein sonderbar warmer Aprilmorgen, an dem Tamara den Laptop vor Corinne öffnet und mit ein paarTastendrucken ertönen Klänge aus dem Gerät. Es ist das Lied, Marahs Lied, Corinne erkennt es sofort. Aber dann kommt ein Text dazu. Tamaras klare Stimme und ein Text, auf diese einfache Melodie:„Briefkasten auf, schaue hinein, neue Anzeige drin,
falscher Weg, großes Camping oder'n gammliger Teich,
wie geht es weiter, was kommt als nächstes,
Hausfriedensbruch war schon dran,
Facebook Gestalke, Drohnenbewachung
ist doch alles schon so...
Ihr denkt, ihr könnt uns so brechen,
doch wir sind euch zu stark;
versuchts mit düstren Methoden,
doch ihr kriegt uns nicht weg...."
So geht das Lied weiter, eine witzige, kämpferische Schilderung ihrer Notlage.
Wider Willen muss Corinne lächeln, als sie das Lied hört.
„Das ist großartig! Ein Kampflied!"
Tamara nickt: „Ja, es ist Zeit für Kämpfe, es reicht, es wird Zeit, dass wir uns wehren."
„Ja" Corinne grinst „und wir machen das auf die Art, die wir am bestenkönnen – mit Kunst. Das ist großartig! Ich mache dir einen Film dazu!"
Tamara sieht sie fragend an.
„Ja," wiederholt Corinne, „wir machen Bilder dazu, eine kleine Geschichte, ein wildes Mädchen und ein Junge im Wald, die sich verbünden um gegen das unbekannte Grauen anzutreten, ein Pferd, Nicki..."
„...und Kater Fußball!"
„Ja," Corinne senkt den Blick „und Kater Fußball. Ich habe noch alte Filmschnipsel von den Katzenbabies und von ihm, wir setzen ihm ein Denkmal."
Sie sehen sich an.
Die Luft ist leichter geworden, plötzlich, die Sonne strahlt in den Raum und spielt mit den Staubflocken, die in der Luft tanzen. Und die Luft ist leichter geworden. Die Luft, die zu schwer auf ihnen lag, um sie atmen zu können.
Eine Woche hatte es gedauert, in der nach Doreens Auszug und dem überstürzten Abtransport ihres Pferdes, alle Einsteller gekündigt hatten. Eine Woche und sie waren nun allein.
„Bei Null angekommen," sagt Gerhard, der auch inzwischen nur noch alleine kommt. „Mandy hält den Druck nicht mehr aus," erklärt er, „und wir lassen mal ein bisschen Luft dazwischen. Sie muss sich auch um Charlotte kümmern und sie..." er zögert.
„Sie sieht keinen Sinn mehr in dem, was wir hier tun," hat Corinne ergänzt.
Er nickt stumm.
„Aber du," fragt Corinne. Das Gespräch hatte im Gartenhaus stattgefunden, nach einem Kassensturz. Denn auch finanziell ist der Verein nun am Ende, nachdem die Zahlungen der Einsteller ausbleiben.
Völlig am Ende.
Gerhard zuckt die Schultern: „Ja, ich bleibe. Du weißt warum. Ich würde niemals, niemals dem Unrecht nachgeben, bevor ich nicht alles versucht habe, es zu heilen."
„HEILE WELT," Corinne lächelt resigniert unter Tränen, „dahin sind wir gekommen mit der heilen Welt."Nun sind sie also nur noch sie drei, und Desi und Dieter, die Aufrechten, die Treuen, die Unbeirrbaren – und das Kampflied.
Mit Fiebereifer machen Corinne und Tamara sich daran, die Bilder zu filmen und zu sondieren und das Lied zu vertonen. Bald schon flimmertein kleines Filmchen über den Monitor, das Tamara in ihrem You Tube Kanal veröffentlicht. Und das sofort Stürme der Entrüstung erntet, eine weitere böse Mail des Grafen und seines Rechtsanwaltes und Stürme über Stürme in der Bonsayh Gruppe, Häme, Hass und Verachtung, gepaart mit neuen Lügen und neuen Verleumdungen.
Aber noch etwas geschieht, womit keiner rechnet:
Der Zauber des kleinen Liedes entfaltet sich, wie von selbst und Menschen kommen. Erst einzeln und dann häufiger, sie kommen zum gucken, um Nicki zu besuchen und zu streicheln, sich das Ganze anzusehen, sich selbst ein Bild zu machen, aber sie nehmen auch am Reitunterricht teil, den Tamara engagiert gibt und sie gehen mit den Ponys spazieren und helfen. Sie helfen bei der Stallarbeit und bei der Pflege der Pferde. Sie spenden. Sie spenden Geld für den Verein, einfach so, oder gegen Lieferungen von Pferdemist. Sie lassen sich nicht abhalten zu kommen, nicht von üblen Presseartikeln, bösen Aushängen an der Stallwand, nicht von dieser gemeinen Gruppe im Internet, nicht vom Klapsmann, der die Besucher beschimpft und bedroht, wenn er da ist. Nicht von Zäunen und abgesperrten Wegen und nicht von knöcheltiefem Schlamm, durch den man gehen muss, um den Reitverein zu erreichen.
Und Leander kommt.
Leander bringt Sand und Kies und befestigt den Zuweg zum Reitgelände, damit auch die Behinderten weiterhin zum Reiten kommen können. Leander bringt Fuhren von Sand und schüttet den Reitplatz auf, damit der Unterricht weiter stattfinden kann. Kostenpunk: Null, eine Tasse Kaffee und ein Lächeln.
Und auch Leander bringt Menschen mit, Menschen, die sich „das Ganze ansehen" wollen, die sich selbst ein Bild machen. Menschen, die hier nichts Schlimmes erkennen können. Keine der so oft kolportierten Verwüstungen, keine Zerstörungen, keine Tierquälerei, kein Missbrauch, kein Gar Nichts. Nur HEILE WELT. Und Lächeln und Freundlichkeit, trotz alle dem. Menschen, die dann die Gerüchte, die über den Verein verbreitet werden, nicht bestätigen können. Und es werden mehr und mehr.
Der Verein erholt sich finanziell.
Es gibt neue Anfragen von anderen Menschen mit Pferden, die den friedfertigen Umgang mit den Tieren am Stall schätzen, die von Corinnes sanften Ausbildungsmethoden gehört haben und von Tamaras Turniererfolgen. Corinne zögert, neue Ersteller aufzunehmen, zu tief war die Verletzung, die Enttäuschung, der dumpfe Schmerz, den der Weggang von Doreen hinterlassen hat. Doreen war eine Freundin, eine Weggefährtin, so hatten sie gedacht. Falsch gedacht und die Enttäuschung um so tiefer. Aber vielleicht zu viel verlangt, grübelt Corinne, vielleicht ist es zu viel verlangt von Menschen zu erwarten, dass sie das aushalten, das was wir hier aushalten.
Und so geht das Leben weiter.
Der Frühling entfaltet sich mit voller Kraft, der Internetblog wächst und blüht, bald interessiert man sich in ganz Deutschland für die Geschichte vom kleinen Verein auf verlorenem Posten.
Fohlen werden geboren, die graue Stute Eisstern bekommt einen Sohn vom schwarzen Hengst Windtänzer, ein Prämienfohlen im lackschwarzen Gewand und Sandmann hat eine weitere Tochter, eine zarte Schönheit, die sie Delight nennen, „Entzücken", ein echtes edles Drum.
Die Katzen bekommen Welpen und bald wuseln lauter bunte Kätzchen über den Hof, zur Freude der vielen Kinder und heilen die Verletzung, den Verlust, den Kater Fußball hinterlassen hat.
Sie machen weiter.
Sie machen weiter, Tag für Tag, von Morgen bis zum nächsten Morgen und es geht.
Es geht weiter.
Und die Raben, die sitzen auf dem Dach des Schlosses und sehen zu – und krächzen: „Irrtum, Irrtum, Irtum", mit ihren rauen Stimmen.
DU LIEST GERADE
Libertas Haus, das Schloss
ÜbernatürlichesWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...