Zuerst hören sie die Sirene, als sie so langsam durch die dunklen Straßen laufen. Dann sehen sie es. Die Feuerwehrautos, auf der Hauptstraße, das blaue Flackern der Warnleuchten, und dann den hellen Schein. Den hellen Schein, der ganz Ehrlichstett in eine leuchtende Glocke verwandelt, ein fast sakrales Spektakel, das den Nachthimmel in goldene Funken hüllt. Es brennt. Es brennt im Schloss.
„Wo ist Corinne?" Tammis Stimme ist schrill. Voller Angst. Die Bilder ihres Traums, die Flammen, ihre Mutter in Not, sie drängen sich in ihr Bewusstsein, nehmen ihr den Atem, jagen ihr Herz vor Angst.
„WO IST CORINNE?" Sie schreit die Frage in die golden erleuchtete Nachtluft und rennt los. Sie jagt auf das Schloss zu. Als sie den Hof betritt, wirft die Kraft, das Licht und die Hitze der Flammen sie fast zurück. Sie kneift die Augen zusammen.
Der ganze Nordflügel, das Atelier, ihre Wohnräume, das Dach, alles steht in Flammen. Zwei große Feuerwehrwagen stehen vor dem Gebäude und richten den Strahl ihrer Schläuche fast hilflos in das brüllende Flammenmeer.
Wo ist ihre Mutter?
Tränen schießen ihr in die Augen, als sie fast blind, weiterläuft.
„Halt, bleiben Sie stehen!"
Sie ignoriert den Feuerwehrmann, der versucht sie zurückzuhalten, sie läuft auf die Haupttreppe zu.Sie tastet sich die steilen Steinstiegen hinauf, die im Laufe der Zeit ausgetreten wurden von hunderten von Tritten von hunderten von Menschen, die aus irgendeinem Grund das Schloss betreten oder verlassen hatten. Ihre Hand streckt sich nach der schmiedeeisernen Klinke aus, sie zögert, langsam, sie hat Angst, eisige Angst, die sie zwingen möchte, umzudrehen, die steilen Stufen hinunterzuspringen und zu rennen, zu fliehen. Sie nimmt allen Mut zusammen und öffnet die Tür – dahinter lodert das glühende Flammenmeer, Flammen schlagen brüllend hoch, fressen sich durch das brüchige, trockene Holz des Treppenhauses, der Boden strahlt eine übermenschliche Hitze aus, die sie zurückwirft. Ihre Mutter, ihre Mutter ist dort oben irgendwo, sie weiß es. Und sie weiß, dass sie sie retten muss. Sie muss da rein, in die Flammen, die sie verbrennen werden, die sie verglüht haben werden, bevor sie das brennende Treppenhaus erreicht haben wird.
Sie strafft den Rücken und geht weiter.
Die Hitze ist unmenschlich, übermenschlich und sie hat Hund nicht mehr. Hund, den kleinen Schutzgeist, dessen Kraft sie brauchte um das Feuer im Wohnwagen zu entfachen, um Kylie zu stoppen und Henry zu befreien.
Du bist die Macht, du hast die Macht, sagt etwas in ihrem Kopf, die Stimme von ....Hund.
Kann ein Hund reden?
Die Stimme des Meisters?
Und sie weiß, dass sie es kann, dass sie das Feuer bannen kann, dass sie die Kraft hat und die Macht. Sie schickt eine Feuerkugel die Stiegen hinauf, ein Feuer, das das Feuer bekämpft, ihr den Weg freibrennt, Feuer gegen Feuer, Macht gegen Macht, Kraft gegen Kraft.
Und sie spürt die Hitze nicht, als sie die Treppe emporläuft, als sie weiter hinauf geht, an der Wohnung vorbei, auf den Dachboden. Das Dach, freigebrannt, der leuchtende Himmel über ihr, die Nacht, die Finsternis.
Dort ist es. Das Ungeheuer, das Monster, seine gebleckten Zähne funkeln im Licht der brüllenden Flammen aus seinem Rachen, sein Atem ein schaler Hauch, der stinkt und modert.
Ihre Angst kehrt zurück, mit aller Macht. Die Flammen, die Hitze, die ihre Haut verkohlt, die Schmerzen, die unirdisch, überirdisch sind, sie weiß, sie wird sterben. Sie weiß es.
Dort ist noch jemand, etwas, mitten in den Flammen, ein Mensch auf einem Pferd, das kann nicht sein, sie reißt die Augen auf, trübe, versengt, wie blind der Blick, er bewegt sich, verdammt, ein lebendiger Mensch, ein lebendes Tier vor dem klaren Himmel, schwarz wie die Nacht und leuchtend, wie das Flammenmeer.
„Tamara...." ruft die Stimme aus den Flammen.
Der Mann steht in den Flammen und seine hellen Augen, seine hellen, alten Augen leuchten. Sein Blick sucht den ihren. Sie geht ihm langsam entgegen.
Ihre Angst wird kleiner und kleiner, bedeutungslos, verschwindend. Und mit ihr das Monster.
Durch die Flammen geht sie, sie spürt, wie die sie berühren, fast streicheln, sie kommt näher, der Mann lächelt und streckt ihr vomPferd herab die Hand entgegen. Ihn umstrahlt ein blaues Licht, ein blaues kühles Licht, der Schein des Rabensteins, ein sanftes Glühen, das sie einhüllt, kühlt, beschützt. Sie lässt es zu, lässt es in sich ein, das blaue Licht, das Alles und das Nichts. Das blaue Licht lässt das Monster, das auf ihren Fersen ist, erlöschen, es wird blass, wie ein altes Bild, verbleicht, verglimmt in den Schatten des blauen Scheins.
Sie sieht ihn an, den Meister auf dem Rappen und die Welt erlischt, die Zeit bleibt stehen und sie spürt das Nichts. Das Alles und das Nichts, das Ende und den Neubeginn, bevor ihre Sinne verlöschen und ihr Körper leblos auf die verbrannten Bohlen sinkt.
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Libertas Haus, das Schloss
ParanormalWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...