„Verdammt - Tammi, ich habe nie gesagt, dass ich reich bin!" Jakobs Stimme hat einen lauten Ton angenommen, als er sich verteidigt.
„Aber du hast es auch nicht nicht gesagt!" Fährt Tammi wütend auf.
Sie haben Henry genommen und ihn in eine kleine Karre gesetzt, die sie auf dem zugeräumten Balkon gefunden haben. Sie haben die Wohnung verlassen und die schlafende Bärbel auf dem Sofa zurückgelassen.
„Warum zum Kuckuck ist das so wichtig?" Jakob schiebt wütend die Karre, in der der kleine Henry sitzt und ihn mit großen Augen anstarrt, die Straße hinunter.
„Es ist nicht wichtig, ob du reich bist, oder nicht. Ich bin auch nicht reich! Aber ich versuche auch nicht den Anschein zu erwecken, dass ich es bin!"
„Ich auch nicht!"
„Doch, deine Markenklamotten, das neue Auto!"
„Das Auto gehört meiner Tante und die Markenklamotten kaufen mein Onkel und meine Tante. Sie wollen für mich sorgen. Ist das verboten?"
„Nein," Tammi möchte schreien, so wütend ist sie," nein, natürlich nicht, das ist es nicht. Aber du hättest doch sagen können, wo du herkommst. Was wäre dabei gewesen?"
„Na, klar, das wäre toll gewesen. Ich sage also dem Mädchen, auf das ich stehe einfach: Also, Tammi, meine Schwester ist eine asoziale Drogensüchtige, mein Neffe ist taubstumm, die Fürsorge kommt sie jeden Tag besuchen, meine Mutter hat sich fortgemacht, als ich noch ein Baby war und mein Vater lebt irgendwo auf der Straße oder hat sich schon totgesoffen oder keine Ahnung. Super, das klingt doch richtig fein, oder?"
Tammi schwiegt.„Nein, das klingt nicht toll," sagt sie schließlich leise. "Aber es ist auch nichts, wofür du etwas kannst. Es ist nicht schlimm. Und Jakob, du kennst uns doch, mich und meine Mutter. Glaubst du wirklich, dass mich das gestört hätte? Glaubst du das echt? Glaubst du nicht, dass ich es eher toll gefunden hätte, dass du kommst, dass du dich um die beiden kümmerst, dass du nach Henry siehst!"
„Mann, Leute, hört auf zu streiten," unterbricht Kylie sie. „Der Kleene hat einen knallroten Kopf, der muss entweder in den Schatten oder wir müssen ihm ne Mütze kaufen oder so!"
Betroffen sehen die beiden Henry an.
Kylie hat recht.
Seine Wangen sind hochrot und Schweiß überzieht das kleine Kindergesicht.
„Mist,"murmelt Jakob," da siehst du, wie toll ich mich um Henry kümmere." Schuldbewusst wechselt er die Straßenseite, wo sie im Schatten der Hochhäuser weitergehen können.
„Gibt es hier kein Cafe oder so was, wo man hingehen kann. Eisessen oder so?"
Jakob sieht Tammi mitleidig an: „Wo glaubst du, dass du hier bist, Unter-den-Linden? Vergiss es, hier, gibt es nur Imbissbuden, sonst nichts und glaub mir, da willst du nicht hin. Lass uns die Straße bis zum Ende gehen, da ist ein Kinderspielplatz, der ist zwar auch nicht erste Sahne, aber wenigstens im Schatten. Da vorne ist ein Türkenladen, da können wir Mineralwasser kaufen und vielleicht einen Saft!"
Und so wird ihr Urlaub in Berlin andres, als geplant.
Sie helfen Jakob, die Wohnung seiner Schwester aufzuräumen und sich um Henry zu kümmern. Bärbel verbringt ihre Tage in dämmrigem Zustand zwischen Wachen und Schlafen und scheint die Anwesenheit der Mädchen kaum zur Kenntnis zu nehmen.
Henry hingegen ist ein wundervolles, entzückendes Kind.
Tammi versteht, warum es Jakob immer wieder zu ihm zieht. Der große graue Blick des Jungen ist offen und prüfend. Wie ein Wunderwerk bestaunt er die Welt, die ständig neue Überraschungen für ihn bereitzuhalten scheint. Er gibt keinerlei Laut von sich, aber sein Blick spricht beredt Bände, als die drei mit ihm in den Zoo gehen und er die Tiere bestaunen kann, als sie mit ihm in den Volkspark gehen, als sie mit ihm Schwäne mit altem Brot füttern und eine Pferdekutsche sehen, die von Schimmeln gezogen die bunte beleuchtete Prachtallee entlangfährt. Er ist das erstaunlichste Kind das Tammi je gesehen hat, weinen oder jammern scheint er nicht zu kennen, er stellt keine Ansprüche, nimmt freudig und dankbar alles entgegen, was ihm geboten wird. Tamara fühlt sich sonderbar glücklich, wenn sie ihn abends müde auf den Knien schaukelt, ihm ein Lied vorsingtund spürt, wie sein kleiner Kopf langsam an ihre Brust sinkt, sein Atem tief wird und er vertrauensvoll auf ihrem Schoß einschläft.
Eine Kluft zu Jakob hingegen ist geblieben.
Auch wenn sie ihn bewundert dafür, dass er sich selbstlos seiner Schwester und dem Neffen hilft, wie er sachkundig und ruhig mit der Betreuerin verhandelt, Briefe an das Jungendamt beantwortet und sich um die Beihilfe für Bärbel kümmert, trotzdem kann sie ihm nicht verzeihen, dass er sie so lange im Ungewissen ließ, was seine Berlinaufenthalte anging.
Es ist eine Form von Unehrlichkeit, dabei bleibt sie, eine Form von mangelndem Vertrauen. Natürlich versteht sie die Angst. Wenn man so aufgewachsen ist, wie Jakob, muss man wohl stets die Furcht haben, geliebte Menschen und Menschen denen man vertraut hat, zu verlieren. Aber dann nicht gar nicht mehr zu vertrauen? Ihr nicht zu vertrauen? Ob das die Lösung ist? Und auf irgendeine Art fühlt sie sich zurückgewiesen, weil er eben, obwohl er ihre Familie und ihr eigenes soziales Engagement kennt, ihr nicht genügend vertraut hat, um sie in seine Geschichte einzuweihen.
Kylie hingegen amüsiert sich köstlich.
Nach ersten schwierigen Anfängen hat sich sich Angies Freundschaft erworben, als sie „die Wand" gemacht hat, als deren Freund Jon betrunken auf der obersten Treppenstiege das Gleichgewicht verloren hatte. Jon war ausgeglitten und kopfüber in die Tiefe, die weiteren Stufen hinabgestürzt. Auf Angies erschrockene Schrei hin hatte Kylie geistesgegenwärtig quer über das Treppenhaus eine „Wand"gelegt, die den Sturz auffing und Jon quer über den Stufen liegend zu stoppen brachte.
„Verdammt, wie hast du das gemacht, Alter?" Angies Stimme war tief vor Bewunderung.
„Ich?" Kylie riss erstaunt die blauen Augen auf.
„Mann, verarsch mich nicht, ich habe gesehen, dass du was gemacht hast!" Während Jon sich benommen brabbelnd zum Sitzen erhob, musterte Angie Kylie mit misstrauischem Blick.
Kylie grinst ihr entwaffnendes Kinderlächeln aus unschuldigen Augen.
„Lass man stecken! Sag ich dir eh nicht. Lass einfach gut sein."
Von da hatte Angie Kylie eine Art stummer Bewunderung entgegengebracht, die allen Anfeindungen sofort ein Ende setzte. Während Tamara mit Jakob die Abende bei Henry am Bettchen verbrachte, lernte Kylie in Angies Begleitung ein ganz neues Berlin kennen, abseits der Touristenströme, verborgene, versteckte Treffpunkte und Szenen. Ihr Eingenweihsein genoss sie, dazuzugehören, das Andere zu sehen und zu erleben, Drogen, Alkohol, aber auch Freiheiten und zügellosen Geheimnisse, die diese große Stadt nur bei Nacht und nur ihren Vertrauten zeigt.
Als der Zeitpunkt der Abreise kommt, sind beide Mädchen traurig.
Kylie, weil sie weiß, dass sie ihre neuen Freunde vermissen wird, das Abenteuer und die Aufregung der großen Stadt.
Und Tamara, weil sie Henry vermissen wird.
Und weil sie diese Kluft mit nach Hause nimmt, die Kluft zwischen Jakob und ihr.
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Libertas Haus, das Schloss
ParanormalWas bisher geschah: Corinne Haalswor und ihre 16 jährige Tochter Tamara ziehen aus München in den wilden Osten Deutschlands ins Hinterland von Halle/Saale in das kleine Dorf Grömlitz. Hier scheint die Zeit stillzustehen und es finden sich bald all...