Ehrlichstett, Frühling 1942

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Tara von Bohburg war doppelt benachteiligt. Eigentlich dreifach:
Sie war das, was man eine „arme Verwandte" nennt. Die von Bohburgs waren entfernte Verwandte der Nachfahren der Vorfahren deren mit demEinstecktuch, die seit dem Mittelalter das Schloss und den Gutshof in Ehrlichstett bewohnten und bewirtschafteten. Die Zeit und ihre Wirrungen war an dem entlegenen Flecken vorbeigegangenen oft zum Wohle des kleinen Anwesens, oft aber auch zur Betrübnis ihrer Eigentümer, stand doch hier immer der Sinn nach Höherem. Vor allem nach dem diplomatischen Dienst. Der Wunsch war bislang nicht in Erfüllung gegangen und so hatten die Nachfahren dieser Vorfahren nie so recht an Einfluss und Wirkung in Regierungskreisen erlangen können. Bis jetzt, endlich! Der Führer des tausendjährigen Deutschen Reiches, nahm alle adligen Gefolgsleute mit offenen Armen auf, zumal man sich in diesen Kreisen teilweise sehr bedeckt hielt, was die Unterstützung des braunen Regimes anging. Der Nachfahr des Vorfahrn des Herrn mit dem Einstecktuch konnte so alsbald zu bedeutender diplomatischer Verantwortung gelangen. Ja teilweise sogar bis in die engsten Kreise des erlauchten Führers vordringen und dort politisch und diplomatisch sein Wirken entfalten. Endlich!

Die von Bohburgs jedoch waren weniger vom Glück begünstigt und wohl auch weniger willens, hatte doch die Familie beschlossen, Nazideutschland zu verlassen und in die neue Welt zu emigrieren, zumal man dort bereits Verwandtschaft hatte und einem in der Heimat klargemacht worden war, dass man entweder mit den Wölfen heule oder besser verschwinde. Tara hingegen, die „arme Tara", wie sie nur genannt wurde, hatte, neben ihres deutlich zum Ausdruck gebrachten Desinteresses an Politik, einen weiteren Grund sich der Emigration zuwidersetzen: Seewind. Aber dazu später.

Die„arme Tara" war das, was man eine „alte Jungfer" nannte. Irgendwie hatte sie den Anschluss verpasst. Auch das war möglicherweise Seewinds Schuld. Und nun, mit ihren 32 Jahren war der Heiratszug wohl endgültig abgefahren und wurde mangels Bewerber auch nicht erneut besetzt und Tara würde wohl oder übel ein altes Mädchen werden müssen. Außerdem war sie nicht hübsch. Heutzutage wären ihre hohe schlanke Gestalt und ihre scharfen Züge einer kastilischen Infantin wohl weniger negativ zu Buche geschlagen, aber dem rundlichen, blonden Idealbild des deutschen Mädels konnte sie sogar nicht entsprechen.

Die„arme Tara" war samt Seewind und einem hässlichen kleinen Terrier, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, in Ehrlichstett untergekommen. Nicht ganz unerwünscht, denn die Dame des Hauses, wegen der diplomatische Pflichten des Gatten in Berlin oft alleingelassen, freute sich über die anspruchslose Gesellschafterin, auch wenn diese mehr Zeit mit ihrem Hund im Pferdestall verbrachte als im Damensalon. Auch daran wiederum war Seewind Schuld.

Seewind wäre wohl besser Sturmwind genannt worden, denn der ungestüme Schimmel reinster Trakehner Abstammung hatte seine Besitzerin, begleitet von ihrem treuen Terrier mit den absurd hellen Augen, das eine ums andere Mal zu Fuß nach Hause gehen lassen, während er schon ungeduldig vor der Stalltür wartete.

Seit ihrem ersten Pony im zarten Alter von 7 Jahren war Tara vom Pferdevirus besessen. Die Besessenheit ging tatsächlich weit über alles hinaus, was für eine Dame in der damaligen Zeit schicklich war, aber die toleranten Eltern erlaubten ihr, nicht nur mit den ständig mitgewachsenden Pferden und Ponys an gewagten Parcefour Jagden teilzunehmen, nein, die junge Tara durfte auch an, damals noch fest in männlicher und militärischer Hand, an Reit- und Springturnieren teilnehmen und es gelang ihr, bis zur Emigration der Eltern, einige Preise und Gewinne mit dem genial-begabten Seewind einzuheimsen. Der Krieg und die Emigration setzen dem sportlichen Ehrgeiz ein abruptes Ende, aber an eine Trennung von Seewind war nicht zu denken und so war Tara in Ehrlichstett eingezogen, bewohnte mit ihrem Terrier ein kleines Zimmer im zweiten Stock des Schlosses, mit Blick auf die Stallanlage in der Seewind neben den genügsamen Ponys und Pferden des Landwirtschaftsbetriebes eingezogen war.

Mit Seewind und dem Hund war für Tara alles gut und weil sie sich nicht sonderlich für Politik interessierte und weil Schloss Ehrlichstett abgeschieden lag und weil auch der Hausherr, zumeist in Berlin in wichtiger Mission, wenig Nachrichten nach Hause brachte, und weil sie in einem Alter war, in dem eine Überwachung ihrer Jungfräulichkeit nicht mehr von Nöten war, entwickelten sich zarte Bande zwischen Tara und dem Stallburschen in Ehrlichstett, Andres, einem dunklen zigeunerhaften Menschen, der ein Zimmer über dem Stall bewohnte, ohne Sattel und Trense ritt, wie der Teufel und dem nachgesagt wurde, dass er Kommunist sei. Weitgehend unbeachtet von den Schlossbewohnern und den Ehrlichstettern verbrachten Tara und Andres nur bewacht von dem hellen Blick des komischen kleinen Hundes, mehr und mehr Zeit miteinander und ihre Liebe zu den Pferden vor allem die geteilte Liebe zu dem großartigen Seewind band sie fest aneinander.

Eines Tages jedoch fuhr ein altmodischer dunkler Wagen vor den Eingang des Stalls und drei Männer in grauen Anzügen stiegen aus. Der Hund, der kläffend die unzähligen Raben im Schlosshof jagte, kam wütend angerannt und schnappte nach den Hosenbeinen des Vorangehenden. Dieser, ein frettchenhafter mit gelblichem Beamtengesicht versuchte vergebens das kläffende, knurrende Bündel mit Fußtritten zu verjagen. Schließlich, stolpernd an der Stalltür angelangt, mit schnarrendem Ton: „Herr Kranizsic, Andres Kranizsic?"

Andres, der in der Stellgasse vor Seewinds Box stand, drehte sich um. Der Magere trat ein letztes Mal nach dem Terrier, den er nun traf und der jaulend die Stallgasse hinauflief. Der Mann verharrte eine Sekunde, das Jaulen bliebt wie ein Geistergeräusch in der Luft stehen. Dann nickte der Beamte einem seiner Kollegen zu. Der kam herein, ging auf Andres zu und schlug ihm, ohne erkennbare Ausholbewegung, die Faust gegen das Ohr. Tara, die vor Schreck erstarrt in Seewinds Box war, sah, wie Blut aus Andres Ohrmuschel schoss. Sie hörte das Reißen von Stoff, als die Männer ihn packten und über den Boden zerrten.

„Andres Kranizsic, ich verhafte Sie wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen politischen Vereinigung und wegen staatsfeindlicher Betätigungen", rief der Verhärmte. „Wo sind die andren Kommunistenschweine?"

Für einen Moment war es still.

Andres kauerte auf dem Boden. Einer der Männer trat ihn wuchtig in dieSeite. Mit einem grunzenden Geräusch kippte Andres um, legte seine Hände vors Gesicht und zog seine Beine so eng wie möglich an den Körper. Der Magere wiederholte seine Frage und sein Kollege trat wieder zu. Ein harter Tritt mit der Schuhspitze in die Nierengegend. Andres stöhnte dumpft und krümmte sich noch enger zusammen. Tara schloss die Augen. Sie legte Seewind die Handflächen über die Nüstern. Als wollte sie verhindern, dass er ein Geräusch ausstieß, dass er auf sich aufmerksam machte.

Der Verhärmte packte nun Andres bei den Haaren und hob ihn langsam vomBoden.

„Lassen Sie ihn, das stimmt doch alles nicht!" Tara Stimme war leise."Hier sind keine Kommunisten. Er ist hier nur der Stallarbeiter, ich weiß das!"

„Sei still Tara," zischte Andres.

Der Verhärmte ließ seinen Kopf fallen, wie einen faulen Apfel. Er richtete sich auf und starrte Tara an.

„Aha, wen haben wir denn hier?"

Er machte einen Schritt auf Seewinds Box zu.

„Tara..."Andres hatte den Kopf gehoben, sein Blick irrte einen Moment im Raum umher bis er Taras fand: „Das ist Frau von Bohburg. Sie hat nichts damit zu tun. Frau von Bohburg, bitte gehen Sie jetzt!" Seine Stimme war flach, flüsternd.

Jetzt erst sah Tara die dünne Blutspur, die ihm übers Kinn lief. Und auf einmal sah sie auch die Verzweiflung in seinen Augen. Für einen Moment öffnete sich ein Fenster in die Zukunft und die Angst wehte zu ihr herein, namenlose grauenvolle Angst. Mit einem unterdrückten Schluchzen ließ sie sich an den breiten Hals des Schimmels fallen und schloss ihre Augen.


Die Männer hatten den Andres auf den Rücksitz des Wagens verfrachtet. Er hatte sich widerstandslos abführen lassen. Nachdem sie vom Gelände gefahren waren, die schmale leere Straße hinunter hatte ein leichter Regen eingesetzt, ein warmer Frühlingsregen.

Tara war vor den Stall gelaufen und hatte dem Wagen nachgesehen. Der Hund war aus dem Stroh wieder aufgetaucht und hatte sich winselnd neben sie gesetzt.

Bis ihre Haare in nassen Schlangen das Gesicht hinunterhingen, waren sie dort gewesen und hatten dem Wagen nachgesehen.



Libertas Haus, das SchlossWo Geschichten leben. Entdecke jetzt