Ehrlichstett, Oktober 2016

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Das kann es nicht geben, er glaubt es einfach nicht!

Sie sitzt an seinem PC: Er kommt in den Wohnwagen, sieht sie von hinten. Ihren Rücken, in so einem Trägertop. Rückenfrei, die Schulterblätter, die sich durch die Haut bohren, wie sie da vor seinem PC sitzt und seine Dateien aufruft.

Sie dreht sich noch nicht mal um, als er reinkommt.

Er schnappt hörbar nach Luft.

Er springt auf sie zu.

Er greift nach ihr, er will ihre Schulter packen, sie nehmen, sie herumziehen, wie werfen, sie zerbrechen, sie auf den Boden knallen, sie zertrampeln, ihr Blut riechen, ihre Knochen zerschmettern.

Er sieht rot.

Sein Atem dampft heiß in seiner Kehle.


Aber es geht nicht.


Seine Hand greift an eine Wand.


Es geht nicht.

Es geht nicht.


Langsam dreht sie sich um.

Sie lächelt. So ein flieses kleines Lächeln, die Augen halb geschlossen.


Er hämmert an die Wand. Seine Fäuste schmerzen aber er kann nicht aufhören. Seine Knöchel sind aufgeschlagen. Es kommt ein dumpfer Ton, wenn er an die unsichtbare Wand schlägt, aber sie zerbricht nicht, er kommt da nicht ran.

Hinter ihr, auf dem Monitor, die alten Fotos von der Nachbarstochter, von damals, als er noch im Haus wohnte, Michelle, er sieht sie auf dem Bildschirm flimmern, das ist seins, sie darf das nicht, das ist privat, das geht sie nichts an...

Sie versteht das nicht.


Er wirft seinen ganzen Körper an die Wand. Er schlägt dagegen. Es schmerzt. Er lässt sich daran herunterrutschen. Er atmet heftig, er schwitzt. Er kauert auf dem Boden des Wohnwagens, an der Wand, er sieht die Kleene an, sie lächelt. Und dahinter die Bilder.

Die Schönheit.

Michelles Schönheit.


Sie ist blond.

Die Haare reichen ihr bis zur Taille herunter und schimmern in der Sonne wie ein Tuch aus Seide. Die Fotos haben das Glimmen, das Glitzern, das Leuchten eingefangen und es strahlt bis zu ihm herunter.

Ihre Hände. Feingliedrig, sehr schmal.

Ihre Beine. Zart, fast zerbrechlich. Alles an ihr ist so, wie aus einem hellen Holz geschnitzt, von jemandem der sich viel Zeit genommen hat und große Mühe gegeben hat. Nichts an ihr ist plump, dick oder groß. Sie ist die vollendete Anmut.

Schönheit.

Schönheit, das er es fast nicht zu glauben wagt.

Und plötzlich begreift er:

Es ist Liebe, was er empfindet.
Es muss Liebe sein, nicht bloß Gier, Erregung, all das was dazugehört, was aber nur deshalb entstehen konnte, weil er sie liebt. Die Liebe ist der Anfang, der Boden, auf dem die Sehnsucht gedeiht. Die Sehnsucht, die er für die Kleene nicht aufbringt, nicht für Sylvia. Sylvia war eine Notlösung gewesen. In bittere Notwendigkeiten muss man sich fügen, manchmal verlangt das Leben es so. Er war kein...


„Kinderficker!!"

Die Stimme der Kleenen klingt hart und metallisch, hinter der Wand.


In seine Kehle presst sich ein Schluchzen. Auflehnung, dazwischen Hoffnungslosigkeit. Denn welche Chance hat er? Er war kein attraktiver Mann, das sah er ohne jede Illusion. Den dicken Bauch verdankt er seiner Vorliebe für Bier, fettes Essen. Er sieht zehn Jahre älter aus, besonders dann wenn er abends zu viel getrunken hat und leider schafft er es nicht, damit aufzuhören. Er hätte mehr Sport treiben müssen, mehr Gemüse essen, Wasser oder Tee trinken,aber Herrgott noch mal, wenn man dreißig Jahre lang anderes gelebt hatte, dann ging das nicht so einfach mit der Umgewöhnung. Er hatte sich gefragt ob Michelle, diese Elfe, diese Fee, dieses wunderbare Wesen ihn trotzdem würde lieben können. Trotz Bauch und Tränensäcken, seiner halslosen gedrungenen Gestalt, obwohl er bei der kleinsten Anstrengung keucht und schwitzt.


„Kinderficker," leiser diesmal.

Er keucht. Hilflos. Ohnmächtig.

Die Kleene versteht das nicht und er hasst sie. Das Schluchzen in ihm ist Wut, ein Laut von Wut, Wut und Ohnmacht. Wenn er sie zu fassen kriegt, er würde sie töten. Jetzt und hier töten.


„Es geht hier aber nicht, um dich!"

Er sieht auf.

Sieht durch die Wand in ihre Augen.

Ihren Blick. Die Wand scheint ihn zu spiegeln, zu brechen. Ihre grünen Augen sehen aus, als leuchten sie von innen, in einem metallischen silbrigen Licht:

„Es geht nicht um dich," wiederholt sie: "Es ist mir egal, wie gemein du bist. Es gibt immer jemanden, der noch gemeiner ist als du. Und eines Tages wirst du ihm begegnen. Oder ihr."


Sie lächelt wieder, diese komische kleine Lächeln.

Matt schlägt er mit der Faust vor die Wand.

Eine blasse Blutschliere bleibt, als er die Hand kraftlos herabrutschen lässt.

Die Bilder von Michelle auf dem Monitor umrahmen den Kopf der Kleenen, wie eine Bühne. Eine irreale, unglaubliche Bühne.


Sie steht nun auf und geht direkt an die Wand. Die Bilder von Michelle, die hellen Farben bleiben komischerweise hinter ihrem Kopf.

Sie beugt sich hinunter, ihr Gesicht nun direkt neben seinem. Sie flüstert, aber ihre Stimme klingt überlaut in seinen Ohren: „Noch gefährlicher, als die gemeinen Typen, sind die die verrückt sind," flüstert sie: "Du weißt nie, was sie ausrasten lässt und was sie als nächstes tun."
Sie macht eine Pause und sieht ihn an, mit diesem hellen Metallblick. Mit Michelle als Rahmen um ihren Kopf:

„Es geht nicht darum, gemein zu sein. Es geht darum schlau zu sein. Es geht darum wachsam zu sein."


Plötzlich ist die Wand fort.


Er sackt zusammen, sein schwerer Oberkörper, der an die Wand gelehnt war, hat keinen Halt mehr, rutscht auf den Boden des Wohnwagens.

Sie sitzt wieder auf dem Stuhl vor dem PC, der nun dunkel ist, Bildschirmschoner, ausgeschaltet?

„Ich sage dir, was wir tun."

Sagt sie: "Was wir jetzt tun."


Libertas Haus, das SchlossWo Geschichten leben. Entdecke jetzt