Kapitel 128

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Ein guter Rat ist gefragt! ...

Im Taxi sitzt Jenny auf der Rückbank, sie schaut aus dem Fenster, dabei kullern die Tränen über ihre Wangen. „Alles in Ordnung?", fragt der Mann hinter dem Steuer, als er durch den Rückspiegel Jennys weinendes Gesicht sieht. „Ja, schon. Ich habe nur einen schlechten Tag heute", beantwortet sie die Frage des Taxifahrers. Er lässt sie bis ans Ziel in Ruhe. Verwirrt starrt Jenny nach oben in den Himmel, funkelt da Sterne? Sterne, ja der Stern, den sie mit Paul beim Undercover Einsatz gesehen hatte, und er ihr ein Armband mit Sternenanhänger geschenkt hatte, als Zeichen des Moments jener Nacht, in dem sich Paul zu ihrer Liebe bewusst wurde. Dabei berührt sie das Armband, das an ihrem linken Armband gebunden ist. Seit Paul Jenny die zwei Armbänder geschenkt hatten, hat Jenny sie keinen Moment abgelegt, ausser beim Boxen. Sie spürt ein stechender Schmerz in ihrem Herzen und reibt sich mit der Hand an die Stelle. Mit dem Handtuch, das der Chefportier Jenny mitgegeben hat, wischt sie die Tränen an der Wange trocken. „Wie kann Alex mir nach zwei Jahren gestehen, dass er mich immer noch liebt? Warum denn heute? Warum habe ich mich auch zu dem Kuss hinreissen lassen? Alex weiss genau, wie man mich rumkriegen kann. Ich hätte nie mit ihm ins Hotel gehen sollen, sondern sofort mit Paul mitgehen sollen. Dann wäre das hier alles nicht so weit gekommen!", verstört drehen die Gedanken in Jennys Kopf um Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Sie spürt eine Angst, die den anderen jagt, ihre Gedanken kann sie nicht sortieren und ihre Gefühle fahren Karussell. Für einen kurzen Moment im Hotel hat sich Jenny zu Alex hingezogen gefühlt, nur dazu ist es zu einem Kuss gekommen und wer weiss, vielleicht wäre sie mit ihm im Bett gelandet? „Um Himmels Willen! Ich will mir nicht vorstellen, wenn es wirklich so passiert wäre, dann könnte ich Paul nie mehr in die Augen sehen. Paul...ja, ich liebe Paul. Oder habe ich mir was vorgemacht? Fühle ich noch was für Alex? Liebe? Wie weit darf die Liebe gehen? Liebe kann man nicht erzwingen, sie kommt von Herzen! Jenny, das muss dir doch klar sein! Ist es überhaupt möglich, sich wieder in einen Menschen zu verlieben, mit dem man schon eine Beziehung hinter sich hat?", bei diesen Gedanken läuft Jenny eine kalte Schauer den Rücken empor. Sie kuschelt sich in ihre Jeansjacke und das Taxi hält an der angegebene Adresse. Jenny zahlt schnell, verzichtet auf Rückgeld und steht nun vor der Haustür. Pauls Mercedes steht nicht da, sie geht mit hängendem Kopf auf die Wohnungstür zu. Zögernd steckt sie den Schlüssel rein, dabei fällt ihr Blick auf die Türklingel, die den Namen Renner/Dorn zeigt. In ihr kommt das Bild wieder hoch, als Paul sie im Badezimmer gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könnte, ganz zu ihm zu ziehen und sie sich sehr gefreut hatte. Beim Betreten der Wohnung fällt ihr die Stille in der Dunkelheit auf, leise ruft sie:"Paul?" Keine Antwort, kein einziges Geräusch. Jenny geht auf ihren Nachttisch im Schlafzimmer zu und steckt den Ladekabel in das Handy. Nun geht sie ins Bad und zieht die nassen Klamotten vom Leib, springt schnell unter die Dusche und lässt heisses Wasser auf ihr Körper rauschen.

Mittlerweile ist es von der Nacht auf den ganz frühen Morgen zugegangen, Paul steuert seinen Mercedes Richtung Semirs Haus. Paul hat das Bedürfnis mit einem Freund reden zu müssen. Sein alter Freund von der Polizeischule, Louis, ist in Hamburg. „Zu weit, um ein Gespräch unter vier Augen zu führen, am Telefon ist es nicht das Gleiche, wie man es persönlich macht", überlegt Paul und entscheidet sich spontan, zu Semir fahren. „Semir kennt Alex noch von früher, vielleicht kann Semir mich besser mit meinen Gefühlen nachvollziehen als Louis." Mit Schrittgeschwindigkeit steuert der Dienstwagen von Paul auf den Hofeinfahrt zu, die Fenster sind dunkel, alle scheinen zu schlafen. Leise schlägt Paul die Autotür zu und geht an dessen Fenster, das zum Schlafzimmer von Semir und Andrea führt. „Semir?", ruft Paul, versucht es die paar Male noch. Im Bett schläft Semir tief und fest, seinen Arm ist um den Körper seiner Frau gelehnt. Andrea hört eine Stimme, wacht auf und horcht angestrengt nach, bis ihr die Stimme von Paul bekannt vorkommt und versucht, vorsichtig aus dem Bett zu schleichen. Sie geht um das Bett herum ans Fenster und sieht Paul, der gerade zum Auto gehen möchte. Auf Zehenspitze schnappt sie ihr Bademantel, streift sie über die Schultern und geht die Treppenstufen nach unten und reisst die Haustür auf, Paul steigt wieder aus dem Auto. „Andrea!", mit verzweifeltem Gesicht steht Paul vor ihr, „sorry bitte wegen der Störung. Kann ich vielleicht mit Semir reden? Ich brauche einen Freund, ich...", weiter kann Paul nicht sprechen, er beginnt leicht zu schluchzen. Andrea nimmt ihn in die Armen, und streichelt beruhigend auf seinen Rücken. „Komm erstmal rein!", bittet sie ihn und dieser folgt ihr ins Haus in die Küche. Sie lässt Paul auf den Stuhl Platz nehmen und setzt den Wasserkocher auf. „Ich mache dir einen Tee und dann hole ich Semir, ok?" Paul nickt nur. Andrea hat Mitleid mit ihm und kann sich denken, worum es geht, denn sie hat schon auf dem Fest geahnt, dass nichts Gutes kommen würde. Der Wasserkocher setzt einen Pfiff aus, Andrea schenkt Wasser in die zwei Tassen ein und der Pfefferminztee braucht die Zeit zum Einwirken. „Ich wecke Semir jetzt", drückt Andrea Paul mit ihrer Hand auf seine Schulter, dieser legt seine Hand dankend auf ihre Hand. Im Schlafzimmer rüttelt Andrea den schlafenden Semir, der nach einer Weile erst realisiert, dass er geweckt wird. „Mhm...", brummt Semir, der es nicht mag, mitten in der Nacht geweckt zu werden. „Schatz, es ist ein Notfall!" Schlagartig wird Semir wach und richtet sich im Bett auf. „Wie, was, wo?", blickt er erschreckt in dem Raum um sich. Andrea legt beruhigend ihre Hände an Semirs Schulter. „Paul ist hier, er ist völlig fertig. Sei ihm ein guter Freund und steh ihm bei!", rät seine Frau ihm und Semir nickt. In der Küche trifft Semir auf seinen jüngeren Partner und als dieser zu ihm aufblickt, zerreisst es Semir das Herz, dass Paul so verzweifelt aussieht und schliesst ihn in seinen Armen. In Semirs Armen fühlt sich Paul geborgen und lässt nun seinen Tränen freien Lauf. Eine Weile dauert es, bis Paul sich beruhigt hat. Beide nehmen einen Schluck Tee und Semir gibt Paul Zeit, bis dieser sich seinem Partner anvertraut und ihm die ganze Geschichte erzählt, vom Verlassen des Festes bis zum Hotel, wo er Brandt gefunden hat. Semir hört ihn zu und kann sich vorstellen, wie elend sich Paul fühlt.

Nach dem Duschen ist Jennys erster Gedanke der Anruf bei Paul. Ihr Handy hat wieder Akku, auch wenn es nicht voll ist, es reicht, um Paul anzurufen. Zwar hört Jenny das Klingeln im Hintergrund, aber anscheinend möchte Paul nicht rangehen. Sie hinterlässt eine Nachricht auf der Mailbox. Zielstrebig geht sie auf das Regal im Wohnzimmer zu, holt das Pippi Langstrumpf-Buch heraus und liest nochmal den Brief ihrer Oma Mia. Nachdem sie dies zu Ende gelesen hat, zerknüllt Jenny aufgebracht den Brief und wirft ihn achtlos in die Ecke neben der Kommode. Sie geht zu Knien und lehnt sich mit dem Rücken an das Regal. „Oma! Hilf mir bitte!", schluchzt Jenny in die Dunkelheit im Wohnzimmer. Verzweifelte Hilferufe an die Oma, die im Jenseits existiert. Nur im Schlafzimmer brennt die kleine Nachttischlampe. Obwohl Jenny weiss, dass sie alleine in der Wohnung ist, hat sie innerlich die kleinste Hoffnung, ihre Oma würde ihr gegenüberstehen, sie wie ein kleines Kind trösten und einen guten Rat geben. Jenny setzt sich zusammengekrümmt, ihre Armen um die Beine gelehnt. Den Kopf legt sie auf Knien und schliesst für einen Moment die Augen. In ihren Gedanken erscheint Mia und legt ihren beschützenden Händen auf ihren Haarscheitel. „Mein geliebtes Kind! Es ist das, was ich vorausgeahnt habe, nun eingetreten. Jenny, kämpfe für die Liebe deines Lebens! Liebe ist das Einzige, wofür es sich wirklich lohnt, zu kämpfen! Liebe ist es dann, wenn man auch schwere Zeiten zusammen übersteht und nicht aufgibt, auch wenn es manchmal hoffnungslos erscheint. Einer von den beiden musst du verletzen, du kannst nicht beiden haben!" Jenny spürt eine warme Berührung auf ihrem Haarscheitel, als sie ihren Augen öffnet und den Kopf hervorhebt, spürt sie eine leichte Brise in ihren Haaren und an ihrem Gesicht. „Oma, warte!", fleht Jenny, ist sie sicher, ihre Worte gehört zu haben, doch sie bleibt alleine in der schwachen Dunkelheit zurück. Sie steht auf und tastet nach dem zerknülltes Papier in der Ecke, glättet es mit ihrer Hand und versteckt es wieder in das Pippi Langstrumpf-Buch. Das Buch findet seinen Platz im Regal wieder...    

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