154. Der Fahrstuhl stürzt ab

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Veröffentlicht am 18.06.2021

TABEA
Es ist der 1.Mai.
Ich bin in der 29SSW.

Seit dem Schwächeanfall vor zwei Wochen versuche ich keinen Kontakt mehr zu Miriam aufzunehmen. Wenn ich sie in der Klinik sehe grüße ich sie wie jeden anderen Kollegen auch. Eine Reaktion von ihr bekomme ich darauf nicht zurück. Es ist eher so, dass sie wegschaut.
Macht sie das aus Scham? Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass sie es absichtlich macht. Ich weiß, dass meine Schwangerschaft für sie eine Belastung ist. Wenn alles geplant gelaufen wäre, dann wäre sie seit 4 bis 5 Monaten Mutter. Ein großer Wunsch von ihr, der leider zerplatzte.
Wie gerne würde ich jetzt für sie da sein. Jetzt, wo sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt hat und verkraften muss, dass er Alkohol und Drogen konsumiert. Wie gerne würde ich ihr zuhören, ihr ein >>Zuhause auf Zeit<< geben. Doch sie will es nicht und ich habe es ihr nicht mal angeboten.
Ich weiß von Kollegen, dass sie inzwischen in einem 1-Zimmer-Appartement wohnt. >>Notlösung<< nennt sie es wohl, denn ihr Ex-Freund und sie teilten sich eine Wohnung und sie wollte keineswegs weiterhin da wohnen.
Es fällt mir schwer, nichts machen zu können. Ich muss an mich denken, an das Baby. Stress ist schlecht für mich.

Es ist Feiertag und erstmal wenig los in der Klinik. Aus Erfahrung weiß ich, umso später es wird, desto mehr wird die Notaufnahme aufgesucht, denn der Alkoholpegel und die daraus resultierenden Unfälle nehmen zu.

Ich sitze im Aufenthaltsraum und trinke einen Kamillentee, als Dr. Saskia Smolka herein kommt und sich einen Kaffe holt und sich mir gegenüber an den Tisch setzt.
Saskia:"Hallo Tabea. Darfst du dir auch eine Pause gönnen?"
Ich:"Hallo, ja" und schau zur Uhr. "Wobei es vermutlich nur die Ruhe vorm Sturm ist."
Saskia:"Davon gehe ich auch aus. Wobei ich hoffe, dass es nicht zu schlimm wird. Auf den OP kann ich heute echt verzichten."
Ich grinse.
Saskia:"Da hast du es echt gut. Ich gebe zu, dass habe ich immer genossen, an solchen Tagen nicht in den OP zu müssen."
Ich:"Wobei ich gerne operieren würde."
Saskia:"Glaub ich. Irgendwann reizt es einen. Genieß noch die Zeit ohne. Danach bist du schneller wieder drin als es dir vielleicht lieb ist."
Ich:"Die paar Wochen halte ich jetzt auch noch durch."
Saskia nickt. "Nicht mehr lange. Dann bist du schon im Mutterschutz und schon ist das Baby da. Es wird schnell groß. Meine Kleine wird schon 6. Wo ist die Zeit geblieben?"
Ich:"Dann steht die Einschulung bevor."
Saskia:"Vielleicht. Wir sind uns noch nicht sicher, ob sie hinkommt. Vielleicht geht sie auch noch ein Jahr in den Kindergarten. Als Kann-Kind alles möglich."
Ich:"Kann-Kind?"
Saskia:"Ein Kind, welches zur Schule darf, aber nicht muss. Sie ist nach dem Stichdatum geboren. Wer weiß wie die Situation in 6 Jahren ist. Vielleicht gibt es dann garkeine Kann-Kinder mehr."
Ich:"Wer weiß. Bis dahin ist zum Glück noch Zeit."
Saskia:"Das stimmt. Weißt du denn schon wie lange du zuhause bleiben möchtest?"
Ich zucke mit den Schultern.
Saskia:"Habt ihr noch garnicht darüber gesprochen?"
Ich:"Nicht wirklich. Es erschien mir noch so weit weg."
Saskia:"So lange ist es nicht mehr."
Ich:"Du warst immer 1 Jahr zuhause oder?"
Saskia nickt. "Und nie bereut. Ein Jahr vergeht so schnell."
Ich:"Hast du die Arbeit nicht vermisst?"
Saskia:"Schon, wobei ich die Zeit mit meinem Baby auch genossen habe und immer wusste, ich werde wieder arbeiten gehen. Nur nicht sofort."
Ich:"Mm."
Saskia:"Ich konnte mir das anfangs auch nicht vorstellen, nur Mama sein. Heute sage ich, es ist eine Zeit die mir niemand nehmen kann."
Ich:"Ich glaube, ich sollte mir darüber mal Gedanken machen."
Ich habe den Satz gerade ausgesprochen, da geht mein Pieper und zeigt >>Notaufnahme<< an.

Ich möchte die Treppen nutzen. Da diese gerade geputzt werden nutze ich den Fahrstuhl.

Plötzlich ruckelt es und es ist still. Der Fahrstuhl steht. Ich drücke den Notfallknopf und erkläre die Situation. Der Mann dort spricht, dass er den Techniker informieren wird und auch die Klinik.
In der Theorie ist mir das Prozedere bekannt. Nun praktisch darin zu sein gefällt mir nicht. Ich hoffe, dass der Techniker schnell da ist und den Fahrstuhl zum fahren bringt.

Das verlorene KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt