96. Teil II: So wie sie war

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Veröffentlicht am 02.02.2020

SCHWESTER SELVIA
Es ist 12:30 Uhr und ich hole die Tabletts vom Mittagessen aus den Patientenzimmern.
Ich klopfe bei Charlotte an und gehe rein. Ich sehe, wie sie in ihrem Bett liegt und schläft. Leise hebe ich den Deckel vom Essen hoch. Sie hat es nicht gegessen. Ich schaue zu ihr und irgendwas in mir sagt, dass ich ihre Atmung kontrollieren soll. Ich schaue auf ihren Brustkorb und sehe nichts. Ich lege mein Ohr an ihre Nase und höre nichts. In der Position kann ich auch den Brustkorb sehen, welcher sich heben und senken soll; doch ich sehe das nicht.

Die Zimmertür steht noch auf.
Ich schreie:"Ich brauche Hilfe, sofort!"
Im gleichen Moment fange ich mit der Herz-Druck-Massage an.
Schwester Leandra kommt ins Zimmer.
Ich schreie sie an:"Herzstillstand. Hol einen Arzt und den Notfallwagen."
Ich gebe Charlotte Atemspenden und übe weiter die Herz-Druck-Massage aus.
Es dauert nicht lange, da kommt Dr. Miriam Dietz ins Zimmer gerannt. Kurz darauf auch Leandra mit dem Notfallwagen.
Miriam:"Was ist passiert?"
Ich:"Herzstillstand."
Miriam:"Seit wann?" und zu Leandra "Ambubeutel."
Ich:"Ich weiß es nicht. Als ich ihr das Mittagessen gebracht habe war sie noch wach."
Miriam:"Ich brauche einen weiteren Arzt."
Genau in dem Moment betritt Dr. Martin Flemming das Zimmer.
Martin:"Ich bin schon da. Was haben wir?"
Miriam:"Stillstand. Zeitraum unbekannt. Wir intubieren."
Martin zu mir:"Ich übernehme. Helfen Sie Leandra."
Es geht alles sehr schnell und da intubiert Miriam Charlotte schon.
Martin:"Monitor dran und Adrenalin."
Ich schließe den Monitor an, während Leandra das Medikament raus gibt. Während dem machen Martin und Miriam im Wechsel die Herz-Druck-Massage weiter. Der Monitor zeigt eine gerade Linie. Das Herz schlägt nicht.
Miriam:"Defi." Leandra gibt ihr den. "Laden auf 200. Weg vom Patienten. Schuss."
Wir starren auf den Monitor, wo sich nichts ändert. Martin macht mit der Herz-Druck-Massage weiter.
Miriam:"Laden auf 300. Weg vom Patienten. Schuss." Wieder passiert nichts.
Martin:"Nochmal Adrenalin." Leandra gibt es ihm. Er verabreicht es Charlotte.
Miriam:"Laden auf 360. Weg vom Patienten. Schuss."
Jedes Mal schaue ich auf den Monitor und hoffe, dass sich was ändert, aber so ist es nicht.
Martin übt weiter die Herz-Druck-Massage aus. Er wechselt sich mit Miriam ab.
Martin:"Komm Charlotte. Das ist noch zu früh für dich."

Über eine halbe Stunde versuchen wir ihr Herz wieder zum Schlagen zu bekommen. Es klappt nicht.
Martin:"Wir hören auf. Todeszeitpunkt" und schaut auf seine Armbanduhr "13:13 Uhr. Heute ist der 28.08.."
Erstarrt stehen wir am Bett. Tränen fließen bei mir. Ich schaue zu Miriam und Leandra und sehe, dass bei ihnen auch Tränen fließen. Ich schaue zu Martin und merke, wie er um Fassung ringt.
Martin:"Das Leben ist ungerecht. Ich bin Arzt geworden um zu helfen." Mehr sagt er nicht, denn auch bei ihm fließen Tränen.

Nach einer Weile sagt er:"Wir haben alles getan was medizinisch möglich war. Manchmal ist leider auch die Medizin noch nicht so fortgeschritten um Leben zu retten." und schaut zu uns. "Wir haben wirklich alles getan. Der Kampf ist verloren." und stockt. "Ich werde mit Frederik sprechen. Tut ihr mir bitte den Gefallen und extubiert sie und befreit sie von den EKG-Pflastern, Venenzugang usw.. Ich möchte nicht, dass Frederik sie so sieht."
Wir nicken.
Martin:"Danach stelle ich euch von der Arbeit frei. Ich werde Vera Peters Bescheid geben, dass sie für euch da ist. Wenn ihr möchtet könnt ihr zu ihr gehen, wobei ich denke, dass sie auch zur Station kommen wird."
Miriam:"Und was ist mit dir?"
Martin:"Ich kümmer mich um Frederik."
Miriam:"Ich komm mit."
Martin:"Nein. Kümmer du dich mit darum, dass Charlotte extubiert wird usw.. Ich mach das andere."
Miriam nickt.
Martin verlässt das Zimmer.

Wie in Trance machen wir das was er zu uns gesagt hat. Und als Charlotte von allen Käbeln und Zugängen befreit ist, liegt sie da und sieht aus als würde sie schlafen.

Ein paar Minuten beobachten wir sie noch, bevor Miriam die Decke über Charlottes Kopf zieht und wir das Zimmer verlassen.
Wir gehen ins Schwesternzimmer, wo gleich Übergabe sein wird. Unsere Kollegen schauen uns besorgt an.
Miriam:"Charlotte ist gestorben."
Die Blicke verfallen in Schock und Traurigkeit. Tränen fließen. Wir umarmen uns und weinen.

Das verlorene KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt