95. Teil I: Glaub an dich

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Veröffentlicht am 02.02.2020

CHARLOTTE
Es ist Ende August. Drei Wochen sind vergangen. Wochen, in denen ich Dinge erlebt habe, die ich nicht erleben wollte.
Mir geht es nicht besser, im Gegenteil. Ich bin schlapp und fühle mich wie bei einer Grippe. Die Temperatur halte ich zwischen 37-38 Grad. Die 24 Stunden nach der Chemo sind die schlimmsten. Ich dachte, dass es mit der Zeit besser wird und ich lerne, es besser auszuhalten, aber das ist nicht so. Das kann nicht erlernt werden. Der Körper fährt da sein eigenes ab und ich muss es aushalten, so schlimm das auch ist. Ich freue mich auf den Tag, wo ich keine Chemo mehr brauche und das Schlimme nicht mehr aushalten muss.  Ich verbringe den Tag ausschließlich im Zimmer, weil es mir schwer fällt zu laufen. Wenn ich mit jemandem mein Zimmer verlasse, dann im Rollstuhl und mit Mundschutz, weil jeden Infekt, den ich mir hole, kann für mich tödlich enden.

Meine Kollegen kommen mich regelmäßig besuchen und beziehen mich in speziellere Fälle auch mit ein. Das bereitet mir Freude, weil ich meine Theorie einbringen kann.

Emma kommt mich mehrmals die Woche besuchen und auch mit Merrit, der Haushaltshilfe von der Krankenkasse aus, war sie schon bei mir. Merrit macht ihre Arbeit gut und manchmal lässt sie mich auch mit Emma alleine. Die Minuten sind selten und kostbar. Emma mag Merrit, was mich beruhigt.

Frederik kommt mindestens einmal am Tag vorbei. Seit dem er wieder in Schichten arbeitet merke ich, dass es ihm besser geht. Seine Sorge um mich ist groß, doch ich versuche ihn so gut es geht zu beruhigen.

Vorgestern wurde ein MRT gemacht, worauf noch kein Stillstand des Tumors und der Metastasen zu sehen war. Beides ist gewachsen. Nach 9 Einheiten Chemo habe ich auf anderes gehofft. Der Weg geht weiter.

Lisa (17) war letztes Wochenende in Erfstadt und auch bei mir. Sie fühlt sich wohl in Düsseldorf. Ich bin froh, dass sie zu Besuch kommt. Ich weiß, dass ihr das nicht leicht fällt. Es tut mir gut zu sehen, dass es ihr gut geht.

Es ist Mittwoch, 11 Uhr, als es an der Tür klopft. Lucy Engel (19), meine Nichte und Patenkind, kommt rein.
Lucy:"Hallo Lotte."
Ich:"Hallo Lucy. Das ist eine Überraschung. Was machst du hier?"
Lucy:"Dich besuchen.", nimmt sich einen Stuhl, stellt den neben mein Bett und setzt sich darauf. "Ich hatte einen Termin bei Dr. Smolka. Und da dachte ich mir, bevor ich nach Hause fahre, komme ich bei dir vorbei."
Ich lächel. "Das freut mich. Was sagt Saskia?"
Lucy schaut mich irritiert an.
Ich:"Dr. Smolka."
Lucy:"Ah Dr. Smolka ist Saskia. Gut, dass ich das jetzt weiß. Alles supi. Das Baby kann kommen."
Ich:"Es hat noch Zeit."
Lucy:"Sagt die, die 4 und 5 Wochen vor errechneten Termin entbunden hat."
Ich:"Das war nicht geplant und glaube mir, jeder Tag im Bauch mehr ist besser."
Lucy:"Das weiß ich doch. Sie kann ruhig noch bis Oktober warten."
Ich:"Sie?"
Lucy:"Ja, sie. Es wird ein Mädchen" und lächelt.
Ich:"Wie schön. Ist das wirklich sicher?"
Lucy:"Ja. Schau", wühlt in ihrer Tasche, holt den Mutterpass raus und daraus ein Ultraschallbild, welches sie mir zeigt.
Ich schaue es mir genau an. "Ja, das könnten Schamlippen sein."
Lucy:"Das sind welche."
Ich:"Ok. Wenn Saskia das sagt ist das so."
Lucy lächelt. "Hat sie."
Ich:"Habt ihr denn schon einen Namen für die Kleine?"
Lucy:"Nein."
Ich schaue sie irritiert an.
Lucy:"Wir haben mehrere Ideen, aber keinen wo wir hundert Prozent für sind. Noch haben wir Zeit dafür. Spätestens wenn es da ist wird es einen Namen haben."
Ich lächel. "Und wie geht es Felix?"
Lucy:"Super. Der mag es im Blumenladen zu sein."
Ich:"Das klingt gut."
Lucy:"Mm. Und ich überlege auch schon, was ich machen möchte. Vielleicht Erzieherin, Sozialpädagogin oder Lehrerin."
Ich:"Das klingt gut. Für was schlägt denn dein Herz am meisten?"
Lucy lächelt. "Lehrerin. Ich bin lange genug zur Schule gegangen und habe da gute und schlechte Erfahrungen gemacht und möchte es besser machen. Und was beibringen kann ich den auch."
Ich:"Das schon. Welche Fächer möchtest du unterrichten?"
Lucy:"Sport, Sachkunde und vielleicht Deutsch für Grundschule."
Ich:"Das klingt richtig gut. Da scheint jemand einen Plan zu haben."
Lucy:"Oh ja. Aber das ist noch die  Zukunft, denn ohne Krippenplatz wird das gar nichts."
Ich:"Erstmal muss das Baby auf die Welt kommen."
Lucy:"Das sagt Mama auch, aber ich finde, ich muss auch schon weiter schauen. Und wenn ich keinen Krippenplatz habe muss ich länger zu Hause bleiben." Sie wirkt nachdenklich.
Ich:"Unis haben doch eigene Kitas, da solltest du als Studentin schon einen Platz bekommen. Und wenn nicht, dann nimmst du es mit zur Uni."
Lucy:"Na klar in den Hörsaal und dann steht sie neben dem Professor und heult."
Ich grinse:"Spätestens dann bekommst du einen Kitaplatz in der Unikita."
Lucy lacht.
Ich:"Das Wichtigste ist, dass ihr erstmal Zeit für euch habt." und streichel über ihren Bauch. "Die Babyzeit geht viel zu schnell vorbei."
Lucy hält ihre Hände an ihren Bauch. "Leider ja. Ich weiß noch, wie Emma Baby war und Klara."
Wie sie das sagt schlucke ich kurz.
Lucy:"Entschuldige."
Ich:"Ist schon ok. Ich frage mich gerade, wie es Klara wohl geht."
Lucy:"Hoffentlich gut. Habt ihr eigentlich nochmal was von der Polizei gehört?"
Ich:"Sie suchen weiter, aber jeden Tag, der verstreicht ohne sie gefunden zu haben, verschlechtert die Chance sie zu finden." und stocke kurz. "Ich gebe nicht auf. Irgendwann werden wir alle sie wiedersehen und wenn nicht hier, dann oben." und schaue zur Decke.
Lucy:"Bitte hier."
Ich:"Sie lebt, das spüre ich. Ich habe es bei Lisa gespürt und bei Klara auch."
Lucy:"Wie kannst du das nur so wegstecken? Klara ist doch deine Tochter."
Ich:"Das bleibt sie auch, egal, wo sie ist. Leider ist sie nicht bei mir, da kann ich nichts dran ändern. Glaub mir, du spürst wie es deinem Kind geht. Und ich spüre, dass sie lebt. Ich weiß nicht wo und wie, aber ihr Herz schlägt. Und ich werde nicht den Moment vergessen, wo Lisa wieder da war, und ich weiß, dass ich das mit Klara auch erleben werde. Ich weiß nicht wo und wann, aber den Moment wird es geben."
Ich sehe, wie Lucy schluckt. "Ich finde das toll, wie du das machst. Ich wünschte mir, auch so zu sein."
Ich:"Du bist so und glaub mir, du wirst eine ganz tolle Mama. Ich weiß das." und lächel.
Lucy lächelt auch.
Wir reden noch kurz miteinander und dann geht sie.

Kurze Zeit später bekomme ich mein Mittagessen. Ich habe kein Hunger und lasse es stehen. Ich bin müde, liege im Bett, und schlafe ein.

Das verlorene KindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt