86. Das Urteil

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Ein letztes Mal kehrte Eragon mit Arya, Kalain und Syylara an den Richtertisch zurück. Er legte erneut die Hand auf die Kristallkugel und entfesselte ihren überirdischen Klang. Der lupenreiner Ton flutete wie eine Welle durch den Saal und spülte alle anderen Geräuschen mit sich fort. Eine abwartende, atemlose Stille machte sich breit.
Während der Anführer der Reiter die Schriftrolle vor sich ausbreitete auf der das Urteil niedergeschrieben war musste er heftig schlucken. Er hatte inzwischen bereits einige Krisen als Anführer der Reiter souverän gemeistert trotzdem war er nervös. Es ging dabei wohl auch weniger darum, dass es ihm an Erfahrung mangelte. Nein es war vielmehr die Tatsache, dass durch die gemeinsame Entscheidung die hier getroffen worden war eine erhebliche Anzahl an Leben maßgeblich beeinflusst wurde.
Er räusperte sich und begann:
"Es ist die Entscheidung dieses Gerichts, dass die Angeklagten in den ihnen zur Last gelegten Punkten schuldig sind. "
Ein aufgeregtes Flüstern ging durch die Zuschauer. Die Beklagten selbst ließen sich zumindest keine Reaktion anmerken. Eragon hatte auch nicht wirklich mit einem Gefühlsausbruch von dieser Seite gerechnet.
Nachdem erneut Ruhe eingekehrt war setzte er seine Ausführungen fort. Er sprach in Richtung der Angeklagten:
"Diese Entscheidung dürfte für keinen der Beklagten eine Überraschung darstellen. Die meisten haben sich offen zu ihren Taten bekannt und sich reumütig gezeigt. Diejenigen, die euch als ihre Sprecherin gewählt haben Adira-Zogne, haben die Tat an sich auch niemals geleugnet. Ihr habt lediglich versucht einen Verfahrensfehler zu euren Gunsten auszunutzen. Bevor ich nun das eigentliche Urteil verkünde möchte ich noch etwas zu euren letzten Worten sagen Adira- Zogne. Ihr spracht darin von Minderheiten. Ihr habt argumentiert, dass die missgebildeten Kinder eine Minderheit sind, ihre bloße Anwesenheit euch, beziehungsweise die Mehrheit, stört und dass daher die Bedürfnisse der Mehrheit höher einzuschätzen sind. Zunächst einmal bezweifle ich, dass sich die Mehrheit eures Volkes tatsächlich die bloße Anwesenheit dieser Kinder gestört fühlen würde. Derartig irrationale und unbegründete Ablehnung ist zum Glück eher selten. Darüber hinaus jedoch, sind Mehrheiten und Minderheiten oftmals eine Sache des Blickwinkels. Sagen wir beispielsweise, dass die Mehrheit absolut willens wäre diese Kinder zu akzeptieren. Damit wäre euer Standpunkt der einer Minderheit.
Wie rechtfertigt ihr dann euer Handeln?
Ihr sagt, dass die Anwesenheit dieser Kinder die Schönheit und Perfektion stören würde, zu der die Elfen herangewachsen sind. Auch das kann ich nicht nachvollziehen. Diese Kinder sind schlichtweg anders aber darin kann und will ich kein Verbrechen sehen. Wenn es ein Verbrechen wäre anders zu sein, wäre jedes einzelne Wesen auf der Welt schuldig. Selbst unter den einfachsten Lebewesen ist keines exakt wie das andere. Kein Baum in euren Wald ist wie der andere. Die Grenze die ihr hier gezogen habt ist reine Willkür. Seit ihr jemals auf den Gedanken gekommen die Einschränkungen der von euch verstoßenen Kinder nicht als eine Beschränkung zu sehen sondern als eine Herausforderung die diesen Kindern mit auf den Weg gegeben ist? Es gibt bereits einige Beispiele dafür, dass der einzigartige Blickwinkel den diese Kinder auf das Leben haben einige zu ganz besonderen Leistungen angespornt haben. Einer der jüngsten Novizen des Ordens ist das beste Beispiel dafür. Er hat eine einzigartige Kontrolle über ungesagter Zauber. Sicherlich, auch viele die wir sprechen können hätten diese Kontrolle erlangen können aber wir sind einfach nicht auf den Gedanken gekommen die Dinge auf diese besondere Weise anzugehen weil sie die Notwendigkeit überhaupt nicht erkannt haben. Ist das nicht ein Geschenk dass uns diese Kinder machen? Ihr argumentiert, dass sie nichts nützliches zu eurer Gesellschaft beitragen können. Was ich hier gerade vorgebracht habe zeigt wie sehr ihr euch irrt.
Die Frage ist nun, wie seid Ihr zu bestrafen? Schuld festzulegen war in diesem Falle einfach doch eine gerechte Strafe zu finden stellt ein wesentlich komplexeres Problem dar. Aus den Reihen der geschädigten Eltern sind einige Vorschläge hervorgegangen. Nicht wenige haben euren Tod gefordert."
Eragon macht eine kurze Pause und ließ seine Worte wirken. Zum ersten Mal stellte er bei Adira einen Schatten von Unwohlsein fest der kurz über ihr zeitloses Gesicht huschte.
"Ich kann den Schmerz verstehen, der die betrogenen Eltern zu dieser Forderung veranlasst hat. Nicht nur weil ich selbst Vater bin sondern auch weil mir auf all meinen Reisen eine Gemeinsamkeit bei allen Völkern Alagaesia aufgefallen ist. Ob bei den temperamentvollen Drachen, den stolzen Urgalgra, den vielfältigen Menschen, den rauen Zwergen oder den eleganten Elfen: Überall gibt es Eltern und bei jedem der fünf Völker gibt es wohl keine Liebe die tiefer geht als die von Eltern zu ihren Kindern. Ich wage zu behaupten, dass der Wunsch von Eltern ihre Kinder zu hüten und heranreifen zu sehen ein Instinkt ist der so alt ist wie das Leben selbst. Wie schmerzhaft muss es sein wenn man Opfer einer Täuschung wird wie ihr sie über Jahrhunderte praktiziert habt?
Trotzdem haben wir davon abgesehen die Todesstrafe zu verhängen. Den Eltern die dies gefordert haben versichere ich noch einmal dass sie mein Mitgefühl haben aber der Tod dieser Beklagten wird euch die verlorenen Jahre mit euren Kindern nicht zurückbringen. Ein Element ihres Handeln jedoch gibt euch die Möglichkeit an der Gegenwart und der Zukunft eurer Nachkommen teilzuhaben. Der Zirkel der Heiler hat eure Kinder in die Verbannung geschickt aber sie leben! Wenn man bedenkt wie tief und irrational die Abneigung einiger Mitglieder dieses Zirkels gegen die, in ihren Augen, missgebildeten Nachkommen des Elfenvolkes sind muss man es als Gnade bezeichnen, dass sie den Tod der Kinder nur vorgetäuscht haben. Wie einfach wäre es gewesen ein so hilfloses Geschöpf wie ein neugeborenes Kind zu töten? Eines der Todeswort hätte genügt und wenn man den Zauber richtig gewählt hätte, hätte niemand nachweisen können, dass es sich nicht um eine Totgeburt handelte sondern dass das missgebildete Kind ermordet wurde. Wenn ihr, die ihr nur Verachtung für diese verstoßenen Kinder übrig habt trotzdem Gnade walten lässt und auch diesem Leben einen so hohen Wert beimesst, dass eine Tötung euch undenkbar scheint, käme es mir ungerecht vor, wenn wir euch das Recht zu leben nun absprechen würden."
Erneut machte er Eragon eine Pause und ließ seinen Blick über das Publikum schweifen. Allgemein schien das bisher gesagte auf breite Zustimmung zu treffen. Einige der Anwesenden Elfen nickten, mit tiefer Überzeugung in der Geste, andere wirkten skeptischer, schienen aber die Logik in Eragons Ausführungen gelten zu lassen.
"Ein anderer Vorschlag war es euch das Schicksal aufzuerlegen, dass ihr den von euch verstoßenen Kindern aufgebürdet habt."
Erneut unterbrach sich Eragon und fuhr nach dem er sicher war, dass seine Worte gewirkt hatten fort:
"Es liegt eine gewisse Gerechtigkeit in diesem Vorschlag. Doch ich habe die Unterbringung im Norden mit eigenen Augen gesehen. Zwar haben sich die verstoßenen Kinder mit großer Kunstfertigkeit ihr Los erträglich gemacht aber dennoch erscheint mir dies falsch. Die Art wie die Kinder dort leben mussten entspricht schlichtweg nicht der Art der Elfen. Gefangen zu sein an einem Ort der so arm ist an allem Leben! Es war schwierig genug für diese Kinder, die nur kurze Zeit, hier in diesem Wald, erfahren durften wie reichhaltig das Lied des Leben sein kann. Wie schwer muss es dann erst für jemanden sein, die diesem Lied über Jahrhunderte lauschen durfte und nun plötzlich an einem Ort verbannt zu werden an dem es fast verklungen ist.
Es gab unter uns die Debatte ob darin nicht vielleicht sogar eine angemessene Strafe liegt. Euch begreifen zu lassen was ihr diesen Kindern angetan habt! Auge um Auge, Zahn um Zahn. Letztlich haben wir uns aber doch dagegen entschieden. Auge um Auge beschreibt keine Gerechtigkeit sondern Rache. Außerdem wäre ein Leben dass so völlig gegen die Natur des Volkes ist, dem man entstammt wie eine permanente Folter. Inakzeptabel. Die Geschichte lehrt uns, dass Folter und Rachedurst im Grunde niemals Gerechtigkeit hervorbringen. Wir sind daher zu einer anderen Entscheidung gekommen. Sie lautet wie folgt:
Als ich in den Osten aufgebrochen bin um einen geeignetem Lebensraum für die Drachen zu finden führte der Fluss uns auch an einem Waldstück vorbei. Es liegt mehrere Tagesreisen außerhalb des bekannten Alagaesias. Dieser Wald ist ausgedehnt und reich an Leben. Für die Drachen war er zu klein und zu ungeschützt für euch allerdings wird er in Zukunft Heimat sein und der einzige Ort an dem ihr noch willkommen seid. Euer Urteil ist die Verbannung aber nicht in die ewige Kälte einer lebensfeindliche Steppe sondern an diesen Ort. Ihr habt gesagt Adira, dass ihr nicht gezwungen werden wollt mit Lebewesen zusammenzuleben die eurer Meinung nach missgebildete sind. Nun gut niemand zwingt euch! An diesem Ort könnt ihr Leben wie es eurem Volk entspricht und werdet in dieser Abgeschiedenheit, abgeschnitten von eurem Volk und seinen Heimstätten erfahren wie sehr eure Weltanschauung das Leben begrenzt."
Wieder erhob sich ein aufgeregtes Murmeln im Publikum doch Eragon hob die Hand und brachte die Zuhörer ein letztes Mal zur Ruhe.
"Eines gibt es noch zu verkünden bevor diese Verhandlung ihr Ende findet. Für euch Adira und diejenigen die bis zum Schluss das Unrecht ihrer Tat nicht erkannt haben ist dieses Urteil endgültig. Solange euer Leben auch währen mag ihr werdet nicht in diesem Wald zurückkehren!"
Eragon schämte sich ein wenig dass er Befriedigung empfand als er sah wie Farbe aus dem Gesicht der Heilerin Adira wich. Doch er konnte nicht anders. Auch er war Vater und er kam nicht umhin sich zu fragen was wohl geschehen wäre wenn Aryas Wehen nicht verfrüht eingesetzt hätten und sie Marlena, wie sie es eigentlich gewollt hatte, in einem Geburtshaus ihres Volkes zur Welt gebracht hätte. Hätten die Heiler auch sie in die Verbannung geschickt? Eragon schauderte bei dem Gedanken.
"Es gibt unter euch aber auch die, die eingesehen haben dass sie falsch gehandelt haben. Diese Erkenntnis wollen wir mit einer Gnade belohnen. Einige der betroffenen Eltern mögen jetzt im ersten Moment Bitterkeit empfinden. Über so lange Zeit haben diese Heiler das in sie gesetzte Vertrauen missbraucht und Unrecht getan. Nun behaupten sie einfach dass es ihnen leid tut und sollen deshalb Gnade erfahren? Warum? Auch diese Gefühle sind durchaus zulässig aber ich möchte zu bedenken geben, dass die Heiler, die sich jetzt reumütig zeigen, zum Zeitpunkt ihres Handelns glaubten dem Frieden zwischen Elfen und Drachen zu dienen. Sie befürchteten das missgebildete Kinder eine Beleidigung für die Drachen darstellen könnten. Voratan, der älteste wilde Drache hat diese Befürchtungen zerstreut, ebenso wie die Tatsache dass zwei dieser verstoßenen Kinder von jungen Reiterdrachen auserwählt wurden. Dies ist aber erst kürzlich geschehen. Ich möchte diejenigen, die Bitterkeit empfinden ob der Gnade die wir verhängen wollen, bitten sich zu fragen ob sie heute so klar die Ungerechtigkeiten im Handeln diese Heiler sehen würden wenn nicht eindeutig geklärt wäre, dass die Drachen sich nicht beleidigt fühlen."
Im Publikum zeigten sich nun betretene Gesichter und einige Elfen nickten sich zu oder sprachen leise miteinander. Diesem Argument war wenig entgegenzusetzen. Die Liebe und Zuneigung der Elfen zum Volk der Drachen war einzigartig in Alagaesia und ließ sich nicht leugnen. So manches Opfer wäre als gerechtfertigt empfunden worden wenn es um die Kinder des Himmels und des Feuers ging.
"Um aber auch euch Eltern gerecht zu werden binden wir euch in die Gnade ein, die wir in das Urteil einflechten wollen. Zunächst werden die geständigen Heiler das Exil der anderen Teilen. Nach fünf Sommern jedoch wird es ihnen erlaubt sein sich einmal im Jahr an die Eltern derer zu wenden die durch ihre Taten gelitten haben. Ebenso an die ehemals verstoßenen Kinder. Wenn die Leidtragenden dann bereit sind zu vergeben so soll diesen Elfen die Rückkehr in diesem Wald gestattet werden. Wir legen es also in die Hände derer die geschädigt wurden und die heute noch nicht bereit sind zu vergeben, denn viel zu frisch und zu tief die Wunden sind. Wenn ihr diese Wesen jedoch durch eure Worte überzeugen könnt das ihr begriffen habt und sie dann der Meinung sind, dass eine weitere Bestrafung sinnlos geworden ist, so mögt ihr in der Heimat wieder willkommen sein.
So lautet das Urteil dieses Gerichts und damit beende ich die Verhandlung."





Abstimmen nicht vergessen;)

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