Jess:
Pünktlich um fünf Uhr morgens riss mich mein Wecker aus dem Schlaf. Müde gähnend rappelte ich mich auf. Naja. Immerhin hatte ich ganze zwei Stunden geschlafen. Das war mehr als in den letzten drei Tagen zusammen. Aber so war das eben und ich konnte mich eigentlich nicht beklagen. Immerhin hatte ich die Chance bekommen Medizin zu studieren und nebenbei durfte ich noch jeden Tag die tollsten Pferde reiten. Und dafür wurde ich sogar noch bezahlt. Auch wenn das Geld kaum reichte, um mir meine winzige Wohnung, mein Auto und mein Pferd leisten zu können. Das Pferd konnte ich auch nur finanzieren, weil es gratis in dem Stall meiner Chefin Carol stand. Dafür arbeitete ich lediglich ein bisschen länger. Der Nachteil daran war, dass ich keine Zeit hatte. Bis nachmittags saß ich in der Uni, fuhr dann in den Stall und ritt drei, teilweise auch vier, Pferde. Bis ich wieder zuhause war, war es spät am Abend und dann hieß es noch lernen, denn die Abschlussprüfungen rückten immer näher. Da musste der Schlaf eben mal ausfallen. Aber ich kam auch so klar und wenn die Prüfungen vorbei waren, würde es wieder entspannter werden. Dann verdiente ich mehr Geld und konnte die extra Stunden auslassen. Dazu suchte Carol auch nach einem Stallburschen, der mich unterstützen konnte. Das Problem war nur, dass sie das bereits seit einem halben Jahr tat und es noch keiner geschafft hatte länger als einen Tag mit mir zusammen zu arbeiten. Ich brauchte nun mal mein Tempo und wenn sie da nicht mithalten konnten, klappte das nicht. Naja. Jetzt ging es erstmal in die Uni.
Müde ging ich in mein Bad und machte mich schnell etwas frisch, bevor ich in eine dunkelblaue Jeans und eine weiße Bluse schlüpfte. Danach hätte ich eigentlich etwas Zeit gehabt, um zu lernen, doch mit einem Blick auf mein Handy, stieg ich doch schon in mein Auto und fuhr zum Stall.
Dort angekommen kam mir meine Chefin Carol bereits entgegen und berichtete: "Danke! Stephanie hat heute Morgen frei und Wendy ist krank."
"Wir müssen nur Gas geben. Ich muss um acht an der Uni sein.", meinte ich und so fütterten wir schnell die ganzen Pferde. Zum Glück waren wir hier mittlerweile ein eingespieltes Team und schafften es genau pünktlich.
"Weißt du, wann du heute Nachmittag kommst?", fragte sie schließlich auf dem Weg zurück zum Parkplatz.
"So gegen drei Uhr wahrscheinlich. Wieso?", fragte ich.
"Ich hätte mal wieder einen neuen Stallburschen für dich."
"Was ist es denn dieses Mal? Jemand der keinen Plan von Pferden hat oder jemand, der nicht mit Kritik umgehen kann?"
"Der hatte selber mal drei Ponys und sollte dementsprechend mit Pferden umgehen können."
"Ponys sind aber anders als die Pferde hier. Das ist dem klar, oder?"
"Das werden wir dann raus finden."
"Was für einer ist das denn?"
"Heißt Johannes Owen und kommt aus sehr reichen Haus."
"Na super. So ein verzogener, kleiner Schnürsel, der sofort seine Eltern ruft, wenn ich was falsches sage?"
"Der ist 22 und die Bewerbung klang nicht nach eingebildeter Schnürsel."
"22? Hat der denn sowas wie eine Ausbildung?"
"Ne. Ein miserables Zeugnis und das war's."
"Na dann bin ich ja mal gespannt."
"Seine Eltern haben auf jeden Fall ordentlich Einfluss. Deshalb wär es nett, wenn du ihn nicht nur runter machst. Wenn der doch zu Mama und Papa rennt, bin ich sonst dran."
"Ich versuch's, aber ich brauche jemanden, der Gas gibt."
"Ich weiß. Du darfst dem auch ein bisschen Feuer unter dem Arsch machen. Damit muss er klar kommen, aber es wär gut, wenn du ein bisschen vorsichtiger mit ihm umgehst."
"Ich versuch's, aber jetzt muss ich erstmal los."
"Okay. Wir sehen uns dann."
"Ja."
Schnellen Schrittes ging ich zu meinem Auto und fuhr zur Uni, wo ich in letzter Sekunde noch in die Vorlesung huschte und mich neben meine Freundin Sue setzte.
"Wo kommst du denn her?", fragte sie mit einem Blick auf meine weiße Bluse, die mir das letzte Pferd doch noch voll gesabbert hatte.
"Aus dem Stall. Woher auch sonst?", fragte ich. Sie kannte mich schließlich.
"Ich dachte du reitest heute Nachmittag."
"Ja, aber die Pflegerin war krank. Da musste ich schnell füttern helfen."
"Kann Carol das nicht alleine?"
"Die kann nicht alleine 100 Pferde so pünktlich füttern."
"Und warum musst ausgerechnet du einspringen? Die weiß doch, dass du zur Uni musst!"
"Ja, aber das ist mein Job. Ich brauch das Geld."
"Warum höre ich da jemanden reden?", hörte ich den Professor plötzlich rufen und erkannte, wie er mich mit einem bösen Blick strafte.
"Weil Sie Ohren haben, die Schallwellen ab etwa einem Drück von 20 Mirkropascal erfassen. Ihrer Feststellung nach zu urteilen, haben wir diesen Wert erreicht und daher konnten sie uns hören.", antwortete ich sachlich.
"Wenn Sie sich so mit Ohren auskennen können sie mir zur Einführung garantiert erklären, wie die Bestandteile der Ohren heißen und mir deren Funktion erläutern."
Kurz darauf hatte ich ihm den gesamten Stoff der letzten Vorlesung in Kurzform wiederholt und fragte: "Soll ich weiter reden oder wollen Sie jetzt wieder übernehmen?"
Er schaute mich nur sehr erstaunt an. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass ich den Stoff bereits auswendig konnte, doch das hatte ich die halbe Nacht lang gelernt.
"Nein. Vielen Dank für die Wiederholung. Das war korrekt. Würden sie trotzdem dafür sorgen, dass meine Ohren lediglich die von mir produzierten Schallwellen wahr nehmen?", fragte der Professor, als er sich wieder gesammelt hatte.
"Sehr gern.", sagte ich und packte mein Schreibzeug aus.
Als die Lesung schließlich vorbei war, ging ich mit Sue zusammen in die Aula und wir tranken gemeinsam einen Kaffee.
"Also damit hat er nicht gerechnet.", lachte sie.
"Das hab ich gemerkt. Aber wenn er fragt, bekommt er auch eine Antwort. Das sollte er von mir nach sechs Jahren doch eigentlich wissen.", meinte ich.
"Lernen wir heute zusammen?"
"Wenn du um neun noch lernen willst, können wir das machen."
"So spät?"
"Ja. Ich muss noch alle drei Pferde reiten und Carol hat mal wieder einen neuen Stallburschen für mich."
"Schon wieder? Wo treibt die die denn alle auf?"
"Keine Ahnung. Jedenfalls kommt der heute, aber ich bezweifle, dass der lang bleibt."
"Wieso?"
"Der hat wohl stink reiche Eltern. Der geht bestimmt wieder, wenn er hört, dass er misten muss. Und ich muss mich benehmen, weil Carol Schiss hat, dass seine Eltern auf die Barrikaden gehen."
"Na dann bin ich ja mal gespannt."
"Ich auch. Willst du dann heute Abend kommen oder nicht?"
"Kochst du?"
"Ja klar."
"Dann komm ich. Deine Kochkünste kann ich mir nicht entgehen lassen."
"Mal wieder was anderes als Tiefkühlpizza."
"Hallo! Als ob das das einzige wäre, was ich kann!"
"Was kannst du denn noch?"
"Tütensuppe."
"Wow! Ich bin begeistert!"
"Ja! Ich hab's drauf!"
"Absolut!"
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Angel behind the Appearance
Teen Fiction!Achtung! In diesem Buch werden Themen wie Gewalt, Drogen, selbstverletzendes Verhalten und verschiedene psychische Krankheiten behandelt. Wenn diese Themen dich triggern, solltest du dir gut überlegen, ob du dieses Buch wirklich lesen möchtest. "En...