Kapitel 115

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Jess:

Schon war zu erkennen, wie sich in den Augen von Jane Tränen sammelten. Erik hingegen sah mich nur verständnislos an.

"Das kann nicht sein! Er hätte sich doch gewehrt! Das hätte er niemals mit sich machen lassen!", erwiderte er.

"Er wurde betäubt und hatte keine Chance sich zu wehren. Er konnte nichts anderes tun, als das Ganze über sich ergehen zu lassen.", erklärte ich.

"Oh Gott! Und ich hab dann auch noch so mit ihm geschimpft! Warum hat er nichts gesagt?", fragte Jane unter Tränen.

"Er war psychisch komplett am Ende und konnte einfach nicht darüber reden. Außerdem war ihm das Ganze peinlich. Das ist das große Problem bei männlichen Opfern von Vergewaltigun-gen. Dieses Thema wird einfach tot geschwiegen, weil Männer dann direkt als Schwächlinge abgestempelt werden. Deshalb ist die Dunkelziffer da auch viel höher als bei weiblichen Opfern. Es denkt einfach niemand darüber nach, dass auch Männer vergewaltigt werden können und dass das nichts mit Schwäche zu tun hat. Deshalb ist Nithan einfach verstummt. Er hat das alles in sich hinein gefressen und versucht ein-fach normal weiter zu machen. Das hat natürlich nicht ge-klappt. Nach so einem Erlebnis kannst du nicht mehr klar denken und dich erst Recht nicht auf den Verkehr konzentrie-ren. Deshalb der Unfall. Als er dann realisiert hat, dass seine Schwester tot ist, war er sofort der festen Überzeu-gung, dass er sie umgebracht hat."

"Was ein Blödsinn! Die Schuld wurde eindeutig der anderen Fahrerin zugesprochen und das hat sie auch sofort gesagt. Sie hat nicht aufgepasst und ihm die Vorfahrt genommen. Er konnte nichts dafür!", schimpfte Erik.

"Aus seiner Sicht hätte er noch bremsen können."

"Von 100 km/h bremst du nicht in fünf Metern! Er hatte keine Chance! Das haben die Zeugen alle gesagt! Er war vollkommen unschuldig und hat rein gar nichts falsch gemacht!"

"Aus seiner Sicht sieht das anders aus. Er gibt sich die Schuld und das hat er nicht ertragen. Für ihn war das in dem Moment zu viel und deshalb ist er weg gelaufen. Und leider, leider ist er an einen Ort geraten, der in so einem Zustand ganz schlecht ist. Bei uns an den verlassenen Bahnhof. Der einzige, dunkle Ort in der gesamten Stadt und ausgerechnet den hat er gefunden. Irgendwer hat ihm da Heroin gegeben und wie durch ein Wunder ging es ihm damit besser. Das hat ihn die Probleme vergessen lassen und dadurch ist er auf direk-tem Weg in die Sucht rein gerutscht. Er hat also all die Jahre an dem Bahnhof gelebt und ist immer tiefer in die Sucht gerutscht. Bis er irgendwann kein Geld mehr hatte. Die ganzen Gefühle kamen also wieder hoch und das hat ihn fertig gemacht. Für ihn war klar, dass er so nicht weiter leben konnte und wollte. Daraufhin hat er sein letztes Geld zu-sammen gekratzt und so viel Heroin gekauft, dass es defini-tiv eine Überdosis verursachen würde. Davon hat er sich so viel gespritzt, bis er ohnmächtig geworden ist. Zum Glück wurde er früh genug gefunden und in die Klinik gebracht. Wir haben ihn dann direkt behandelt und konnten ihn retten. Er ist jetzt in der Klinik und macht da einen Entzug."

Nun herrschte erst einmal Schweigen. Das war jetzt wirklich hart und eindeutig zu viel auf einmal, um das so einfach zu verdauen. Da brauchten die Beiden einen Moment und das kon-nte ich gut verstehen. Mir ging es noch vor wenigen Tagen ganz genauso.

"Wie soll es jetzt weiter gehen?", fragte Jane irgendwann.

"Ich kümmer mich jetzt als erstes darum, dass er den Entzug schafft. Damit wird er wahrscheinlich Ende nächster Woche durch sein. Dann wird er aus der Klinik entlassen und kommt zu mir, damit er mit all dem, was passiert ist, erstmal ir-gendwie klar kommt und das alles irgendwie verarbeitet. Wenn er dann so weit ist, komm ich mit ihm hier vorbei und dann kann er sich entscheiden, ob er nach Hause kommt oder ob er sich irgendwo anders ein neues Leben aufbaut. Ich passe auf jeden Fall auf ihn auf und kümmer mich drum, dass er keinen weiteren Mist anstellt."

Angel behind the AppearanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt