Kapitel 113

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Jess:

"Jess, warum lässt du dich nicht behandeln? Ich hab deine Bücher gelesen. Du hättest eine Chance. Du könntest das al-les doch noch überleben. Warum gibst du einfach auf? Das tust du doch sonst nie! Du kämpfst jeden Tag um so viele Menschenleben. Warum gibst du dein eigenes Leben einfach auf? Es wäre doch so einfach, in eine Klinik zu gehen und sich behandeln zu lassen. Warum tust du das nicht?", fragte Bruce in einem sehr ernsten Ton.

"Du verstehst das nicht. Dafür fehlen dir die medizinischen Kenntnisse."

"Ich habe alle Bücher, die du zu dem Thema hast, gelesen! Damit habe ich wohl genug medizinische Kenntnisse!"

"Aber ein Buch ersetzt keine langjährigen Erfahrungen. Du hast nicht das gleiche gesehen wie ich. Du kannst das nicht verstehen."

"Dann erklär es mir! Da steht, dass deine Chancen fünfzig fünfzig stehen und dass du mit einer Chemotherapie überleben könntest. Warum tust du das nicht? Erklär es mir doch!"

"Das, was du da gelesen hast, sind grobe Richtwerte. Krebs ist eine Krankheit, die immer unterschiedlich ist. Bei man-chen ist sie aggressiver und bei anderen nur ganz schwach. Das schwankt genauso wie die Chance einer Heilung. Bei mir ist der Krebs schon weit fortgeschritten und definitiv uno-perabel. Die Chance auf eine Heilung liegt bei höchstens zehn Prozent."

"Aber es ist möglich! Die Chancen eine Heroin Entzug zu schaffen und clean zu bleiben sind genauso gering und trotz-dem hast du gekämpft und es geschafft. Warum tust du das jetzt nicht? Warum entscheidest du dich gegen das Leben?"

"Steht in den Büchern auch, was eine Chemotherapie aus dir macht?"

"Nein."

"Das ist nämlich genau der Punkt, den du bei all dem vergis-st. Ich hätte zwar eine geringe Chance auf Heilung, aber da-für müsste ich Monate oder gar Jahre darauf verzichten zu meinen Pferden zu können. Ich müsste monatelang leiden und würde am Ende halb tot im Krankenhaus liegen und ein Pflege-fall sein. Und genau das will ich nicht. Ich will nicht gar nichts können. Und vor allen Dingen will ich das euch nicht an tun. Ich weiß leider sehr genau, wie es ist einen gelieb-ten Menschen leiden zu sehen und ich will nicht, dass ihr das ertragen müsst. Das verkraftest du nicht und Thomas und Johannes erst recht nicht. Ich habe so viel gegeben, damit ihr alle den Entzug schafft und ein ordentliches Leben füh-ren könnt. Ich will nicht, dass das alles zerstört wird und ihr euch am Ende doch alle in den Tod spritzt. Und genau deshalb will ich keine Chemotherapie. Ich nehme Medikamente, um den Krebs auf zu halten, damit ich noch so lange wie mög-lich leben kann. Damit lebe ich noch mindestens zwei Jahre. Diese zwei Jahre will ich nochmal so richtig mit euch allen genießen. Das bringt uns allen mehr, als wenn ihr mich wo-möglich zwei Jahre leiden seht und ich im Nachhinein doch sterbe. Ich will mein Leben genießen und hier bei euch ster-ben und nicht tod krank und traurig im Krankenhaus. Kannst du das verstehen?"

Von ihm kam nur ein Nicken und ich erkannte, dass er den Tränen sehr nah war. Sanft legte ich einen Arm um ihn und fragte: "Du hast dir Hoffnungen gemacht, dass doch noch al-les gut wird und ich überlebe, oder?"

Wieder kam ein Nicken von ihm.

"Ich weiß schon wovon ich spreche. Ich hab das Ganze sechs Jahre lang studiert. Ein Buch kann nicht die komplette Rea-lität wieder spiegeln und jeden Fall einzeln erklären. Dafür ist Medizin ein viel zu komplexes Thema, das in vielen Ge-bieten noch viel zu wenig erforscht ist. Auch was Krebs an-geht. Dafür gibt es noch keine sichere Heilmethode, die zu-verlässig bei jedem funktioniert. Ich bezweifle stark, dass es die jemals geben wird. Bei dieser Krankheit gibt es viel zu viele Faktoren von denen alles abhängt und sie verläuft immer anders. Niemand kann das voraussehen. Man kann nur hoffen.", redete ich weiter.

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