Kapitel 15

29 0 0
                                    

Jess:

Nach dem Essen, unterhielten wir uns noch lange, bis Sue dann ging. Ich begleitete sie noch nach draußen, wo sie sagte: "Ich erklär ihn für in Ordnung. Schmeiß dich ran!"

"Wir sind nur gute Freunde!", widersprach ich ihr erneut.

"Noch.", ließ sie jedoch nicht locker.

"Das wird auch so bleiben!", schimpfte ich. Konnte man denn nicht mit einem Mann befreundet sein ohne, dass da was lief? Sue mochte vielleicht dauernd einen anderen Typen abschleppen, damit er sich nach ein paar Wochen doch wieder als Arschloch entpuppte, aber so war ich nicht. Abgesehen davon, dass ich dafür keine Zeit hatte, brauchte ich niemanden, der mich doch irgendwann verletzen würde.

"Jess, ich weiß nicht, was dir passiert ist, dass du niemanden an dich ran lässt, aber Johannes ist schwer in Ordnung. Er wird dich nicht verletzen. Und wenn doch werde ich ihn windelweich prügeln. Du hast es verdient glücklich zu sein und ich sehe, dass du ihn wirklich gut findest. Wenn du ihn gehen lässt, wirst du es für immer bereuen."

"Meinst du wirklich?"

"Ja. Vertrau mir einfach. Wenn er dir weh tut, geh ich ihm an die Gurgel. Versprochen!"

"Okay."

"Was hat der eigentlich? Der sah ja aus, wie ausgekotzt. Ist der so krank?"

"Ja. Den hat's so richtig erwischt. Deswegen war ich ja heute nicht in der Uni und hab mich um ihn gekümmert."

"So, wie der aussieht, kommst du morgen auch nicht, oder?"

"Ich denke nicht. Je nachdem, wie es ihm morgen geht."

"Ich bring dir alles mit, wenn du kochst."

"Okay. Wird gemacht. Ich zauber was Schönes."

"Super!"

"Gut. Dann würde ich sagen bis morgen."

"Ja. Und denk dran. Versuch es einfach. Wenn was ist, bin ich immer für dich da. Das weißt du."

"Ja."

"Gut."

Ein letztes Mal umarmte Sue mich noch, bevor sie verschwand und mich mit meinen Gedanken allein ließ. Und diese spielten absolut verrückt. Sie war nun schon die Zweite, die der Meinung war, dass ich mich auf ihn ein lassen sollte und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, wollte ich das auch, doch irgendwas in mir sträubte sich dagegen. Schon seit Jahren hatte ich mich niemanden komplett geöffnet. Weder Sue noch Carol oder Stephanie wussten alles über mich. Johannes kannte schon einen Teil meiner Vergangenheit. Damit hatte ich mich ihm schon mehr geöffnet als allen anderen Menschen in den letzten acht Jahren. Doch konnte ich ihm wirklich alles erzählen? Nein. Ich kannte ihn seit gerade mal einer Woche. Ich konnte ihm noch nicht vertrauen. Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt.

Nachdenklich betrat ich meine Wohnung wieder und erkannte Johannes, der bereits gespült hatte und stark zitternd in meiner kleinen Küche stand.

"Leg dich hin und nimm nochmal die Medikamente. Ich komme sofort.", sagte ich und schob ihn in Richtung Bett, um noch ein wenig auf zu räumen und mich um zu ziehen. Die Jeans wechselte zu einer Jogginghose und die Bluse zu einem Top. So kehrte ich wieder zu Johannes zurück, der bereits im Bett lag und sich mal wieder vor Magenschmerzen krümmte. Ihm schien der Entzug heftig auf den Magen zu schlagen.

"Kann ich dir irgendwie helfen?", fragte ich, wie am letzten Tag auch. Ich konnte nicht tatenlos zu sehen, wie er litt.

"Bitte, leg dich zu mir.", sagte er leise. Ich zögerte nicht lange und legte mich neben ihn in das Bett. Wie auch am vorherigen Abend legte ich sanft eine Hand auf seinen Bauch. Mein Bruder hatte damals immer gesagt, dass Hände heilend wirken können, wenn man nur genug Liebe hindurch strömen ließ. Es klang vielleicht bescheuert, aber mir hatte es damals immer geholfen und Johannes schien es da ähnlich zu gehen. Schließlich hatte es auch ihm schon einmal geholfen. Dieses Mal war er jedoch deutlich verkrampfter und ich merkte ihm an, dass die Schmerzen deutlich stärker sein mussten. Sanft strich ich immer wieder über seinen Bauch und versuchte all meine Liebe in die Berührungen zu stecken, doch es dauerte einige Stunden, bis die Schmerzen scheinbar nach ließen und er eng an mich gekuschelt einschlief.

Erleichtert schaute ich zu ihm rüber. Schlafend sah er so entspannt und sorglos aus. Dann war die Welt völlig in Ordnung. Doch tagsüber war sie das noch lange nicht und ich wünschte mir ihn auch am Tag mal wieder so entspannt und locker zu sehen. Ich wollte, dass er glücklich sein konnte ohne sich dafür komplett mit Heroin zu dröhnen zu müssen. Doch ich wusste, wie schwer das war. Ich wusste, dass man Heroin nicht einfach so zum Vergnügen nahm. Zumindest nicht so, wie er es tat. Wer süchtig nach Heroin war, hatte ein ernsthaftes Problem. Und damit meinte ich nicht die Sucht, sondern das, was dahinter steckte und einen dazu brachte zu den Drogen zu greifen und sich damit in den Abgrund zu stürzen. Ich hatte damals genug Probleme, um dies zu tun, doch warum hatte Johannes es getan? Ja, seine Eltern waren wohl ziemlich scheiße, aber wenn ich das richtig verstanden hatte, waren sie doch sowieso nie da. Was war ihm passiert, dass er sich in den Abgrund stürzte? Aus irgend einem Grund wollte ich es heraus finden und ihm helfen wieder glücklich sein zu können. So wie mir damals geholfen wurde, wollte ich ihm helfen. Doch wie sollte ich das tun? Wenn es ihm besser ging, würde er zurück in seine Wohnung ziehen und ich würde ihn wieder nur sehen, wenn wir im Stall die wenigen Stunden zusammen arbeiteten. Und ich musste zu geben, dass ich mich schon irgendwie an ihn gewöhnt hatte. Es war schon schön nicht immer allein zu sein, sondern neben jemanden ein zu schlafen, den man mochte. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als nur das. Ich konnte nicht abstreiten, dass er mir wirklich wichtig war. Dafür machte ich mir viel zu viele Sorgen um ihn, wenn ich nicht in seiner Nähe war. Aber was war das, was ich für ihn empfand? War das wirklich Liebe? Konnte ich es schaffen meine Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen und mich einfach auf diesen Mann neben mir einlassen? Konnte ich noch einmal jemanden blind und bedingungslos vertrauen? Oder war dafür einfach viel zu viel passiert? Und viel wichtiger: Was empfand Johannes bei der ganzen Sache? Klar war es offensichtlich wie sehr er meine Nähe suchte, aber würde das nicht jeder tun, wenn es ihm so schlecht ging? War es da nicht eine natürliche Reaktion sich an jeden zu klammern, der da war? Das musste es sein. Wir waren Freunde und das würde auch erstmal so bleiben.

Angel behind the AppearanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt