Kapitel 48

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Johannes:

So gingen wir nun zum Stall, wo die Pferde bereits fertig auf der Stallgasse standen, während die anderen Beiden dabei waren alles ein zu packen.

"Ihr seid ja schon fast fertig.", bemerkte Jess erstaunt.

"Ja. Wir dachten wir beeilen uns mal ein bisschen. Wir müs-sen nur noch den Spint in den Transporter bringen und die Pferde verladen. Dann können wir los.", berichtete Sue.

"Super! Danke!", bedankte Jess sich.

"Für die Meisterin doch immer gerne! Deine Schleifen und die Schärpe hab ich dir vorne hin gelegt."

"Danke!"

"Wen hast du da eigentlich mit gebracht?"

"Das ist Thomas. Mein Bruder.", erklärte Jess und Sue klappte die Kinnlade runter. Mit dieser Begegnung hatte sie genauso wenig gerechnet wie wir alle. Das konnte man ihr genau ansehen. Aber ich konnte sie verstehen. Mir ging es ganz genauso. Das war einfach unglaublich. Nach 17 Jahren Trennung sah Jess endlich ihren Bruder wieder.

"Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.", meinte Zoe nur locker und stellte sich kurz vor. Sue tat ihr das völlig perplex nach, bevor wir dann den Spint in dem Trans-porter verstauten und die Pferde verluden. Das klappte auch alles problemlos, bis Summer an der Reihe war. Ganz brav folgte er Jess nach draußen zu dem Transporter, bis er dann an der Rampe stand. Hier konnte Jess gar nicht so schnell reagieren, wie er auch schon auf seinen Hinterbeinen stand, bevor er mit angelegten Ohren rückwärts ging. Jess kannte seine Spielchen allerdings schon und rollte nur genervt mit den Augen, bevor sie ihn am Halfter packte und erneut auf den Transporter zu ging. Doch so einfach ging es an diesem Tag nicht. Die Ohren angelegt bis zum Anschlag versuchte er erneut zu steigen, doch Jess hielt ihn fest.

"Das lässt du mal schön bleiben! Wenn ich neben dir stehe, steigst du nicht!", schimpfte sie und hob ihre Stimme. Da-raufhin stieg der Hengst zwar nicht mehr, doch er weigerte sich noch immer auch nur einen Schritt auf die Rampe des Transporters zu machen. Stattdessen schoss er immer wieder rückwärts. Jess gab jedoch nicht auf und kämpfte noch eine weitere halbe Stunde mit ihm, bis ihr schließlich der Ge-duldsfaden riss.

"Kommt ihr irgendwie noch an eine Trense und eine Gerte?", fragte sie und Sue kramte kurz, bevor sie ihr beides in die Hand drückte. Jess nahm dem Hengst also Decke und Transport-gamaschen ab, um ihm stattdessen die Trense an zu legen.

"Schmeißt du mich gerade hoch?", fragte sie dann an mich gerichtet.

"Du willst dich da jetzt nicht ernsthaft drauf setzten, oder?", fragte Thomas entsetzt.

"Doch. Ziemlich genau das hatte ich vor.", meinte Jess.

"Muss das sein?"

"Die Alternative wäre, dass wir noch drei Stunden mit ihm kämpfen und darauf hab ich echt keine Lust."

"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.", äußerte Thomas seine Bedenken und ich wusste genau, was er dachte. Er liebte sie genauso, wie ich es auch tat, doch ich hatte ihm etwas voraus. Ich wusste, dass dieses Pferd zwar voll-kommen einen an der Klatsche hatte, es aber niemals so weit treiben würde, dass Jess etwas passierte.

"Da passiert nichts. Sonst würde ich ihr nicht noch helfen. Er würde ihr nie was an tun. Dann ist es für ihn vorbei und das weiß er.", schaltete ich mich daher ein.

"Das sieht aber nicht so aus.", widersprach Thomas mir je-doch. Er war sich noch sehr unsicher und das konnte ich gut verstehen. Auf den ersten Blick wirkte dieses Pferd wirklich völlig bescheuert und gefährlich. Aber über die Jahre hatte ich von Jess gelernt, dass man nicht unbedingt immer auf den ersten Blick vertrauen sollte. Unglaublich wie viel ich in den letzten Jahren von ihr gelernt hatte.

"Sein Problem ist, dass er zu viel Energie hat. Dieses Pferd hat im Prinzip ADHS. Und ich denke du kannst dir vorstellen, wie sehr er es hasst im Transporter ruhig auf der Stelle stehen zu müssen. Deshalb macht er hier so ein Theater. Wenn der ausgepowert ist, geht der ohne Probleme rein.", erklärte ich. Das war auch eins der Dinge, die ich von Jess gelernt hatte. Jedes Pferd hatte eine eigene Persönlichkeit. Genau wie wir Menschen auch.

"Und ich soll jetzt zugucken, wie meine Schwester auf dieses Pferd steigt?", fragte Thomas noch immer skeptisch.

"Sie ist meine Freundin. Für mich ist das auch nicht ein-fach, aber ich weiß, dass sie das kann. Ich kenne sie seit sechs Jahren und ich kann die Male, die sie in dieser Zeit vom Pferd geflogen ist an einer Hand abzählen. Da passiert nichts. Sonst wär ich nicht so ruhig. Ich würde nie zulas-sen, dass ihr was passiert.", redete ich auf ihn ein.

"Okay.", sagte Thomas zwar noch immer etwas skeptisch, aber er schien uns zu vertrauen. So ging ich nun zu Jess und half ihr auf den Rücken des Hengstes, bevor wir zum Abreite Platz gingen. Dort angekommen trabte sie den Hengst an und er schoss mit wilden Bocksprüngen vorwärts.

"Und das verstehst du unter brav?", fragte Thomas besorgt.

"Gib ihr fünf Minuten und er ist tot brav. Glaub mir. Sie weiß, was sie tut.", versicherte ich ihm und so war es. Kei-ne fünf Minuten später war nichts mehr von Bocken zu sehen und er tat alles, was Jess von ihm verlangte. Thomas stand nur daneben und staunte nicht schlecht, als sie ganz locker verschiedene Lektionen mit dem Hengst ritt und ihn ordent-lich aus powerte.

"Ist das wirklich das gleiche Pferd?", fragte er erstaunt.

"Ja. Das ist Summer.", meinte ich nur unbeeindruckt. Ich kannte das Spielchen mittlerweile.

Wenig später standen wir wieder an dem Transporter und der Hengst folgte Jess brav wie ein Lamm auf den Transporter.

"Was ist falsch mit diesem Pferd?", fragte Sue ungläubig.

"Es ist genau, wie Johannes es eben erklärt hat. Der hat zu viel Energie und wenn man ihn nicht auspowert, weiß er nicht wohin damit. Er kann ja nicht sagen, dass er lieber nochmal laufen will, bevor er die ganze Zeit stehen muss. Deshalb zeigt er mir das so. So ist er eben.", erklärte Jess.

"Ein hyperaktive Pferd.", meinte Sue kopfschüttelnd.

"Pferde sind auch nur Lebewesen. Die haben alle ihre Eigenheiten. Aber jetzt fahren wir erstmal los. Es ist schon spät.", beschloss Jess und das war eindeutig die richtige Entscheidung. Mittlerweile war es zwei Uhr nachts und Zoe war schon lange nach Hause gefahren.

Angel behind the AppearanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt