Kapitel 101

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Johannes:

Schon nach wenigen Stunden Schlaf wurden wir von drei unge-duldigen Pferden geweckt, die ihr Futter haben wollten. Das bekamen sie auch und wir begannen den Tag mit einem Ausritt. Jess auf Halim und ich auf Windy. Das spannende dabei war, dass Jess mich zwang lediglich mit einem Pad auf den Rücken des jungen Pferdes zu steigen. Warum sie das tat, wollte sie mir jedoch nicht sagen und so war ich gezwungen ihr einfach zu vertrauen.

Sie half mir also rauf, bevor wir durch die Wälder ritten. Und während Jess ganz entspannt die Zügel durchhängen ließ, hatte ich mit Windy ziemlich zu kämpfen, denn er erschrak andauernd und sprang zur Seite oder raste los, wobei ich nicht selten fast den Abflug machte. Jess blieb allerdings immer an meiner Seite und gab mir verschiedene Tipps, sodass es immer besser klappte, bis wir dann an der Galoppstrecke an kamen.

"Pass auf! Denk dran! Er wird bei sowas gerne mal übermütig. Zwischendurch immer wieder Paraden geben, damit er merkt, dass du noch da bist und die Beine dran lassen! Der kann auch buckeln. Und wenn er dir durchgehen sollte, dann lass ihn einfach laufen. Ich rette dich dann schon.", wies sie mich an und kurz darauf jagten wir im vollem Galopp den Berg hoch. Übermütig jagte Windy voraus und es dauerte nicht lan-ge, bis er auch schon einen ordentlichen Buckler machte. Und das war es dann mit meinem Halt. Immer weiter rutschte ich zur Seite, bis der Hengst plötzlich stehen blieb und ich endgültig unten lag. Jess hielt neben mir und stieg ab.

"Alles okay?", fragte sie. Ich nickte nur, bevor er ich wie-der auf stand.

"Okay. Wo war der Fehler?", fragte sie.

"Ich hatte die Beine nicht dran.", antwortete ich.

"Genau. Und weißt du auch warum?"

"Nein."

"Du hast keine Kraft in den Beinen. Du hältst dich über die Steigbügel und wenn die weg sind, fliegst du ganz schnell. Da müssen wir dringend was gegen tun. Jetzt aber weiter und als aller erstes kriegt Windy jetzt ein ganz dickes Lob von dir. Der hat das nämlich total super gemacht."

"Mich runter zu buckeln?"

"Das war nicht seine Absicht. Das war nur ein Freudenbuck-ler. Was ich toll finde ist, dass er sofort stehen geblieben ist, als er gemerkt hat, dass du rutschst. Das hat dir zwar den Rest gegeben, aber so ist es um Längen besser, als wenn er weiter rennt und dich dann womöglich noch verletzt. Das zeigt, dass man ihm auch in Notsituationen vertrauen kann und das finde ich super."

"Ja. Er hat das schon gut gemacht.", stimmte ich ihr zu und lobte den Hengst ausgiebig, bevor wir weiter ritten.

Nach etwa einer dreiviertel Stunde kamen wir wieder zuhause an und versorgten in aller Ruhe die Pferde.

"Und warum musste ich ihn jetzt ohne Sattel reiten? Damit ich mal im Gelände runter fliege?", fragte ich nun. Darüber hatte ich schon die ganze Zeit nachgedacht.

"Nein. Damit du endlich anfängst ihm zu vertrauen. Reiten lebt vom Vertrauen. Ihr braucht das, um zusammen arbeiten zu können und dafür musst du den ersten Schritt machen. Wenn du ihm kein Vertrauen schenkst, wird er es dir genauso wenig schenken und dann wird das nichts. Deshalb hat er sich am Anfang vor allem so erschrocken. Du saßt da drauf und hast dir die ganze Zeit gesagt, dass das gar nicht gut gehen kann. Deshalb hat er sich gedacht, dass er dir nicht ver-trauen kann und auf sich selbst aufpassen musst. Hättest du jetzt gesagt, dass alles gut ist und du schon auf ihn auf-passt und hättest darauf vertraut, dass er genauso auf dich aufpasst, wäre alles gut gewesen. Deshalb wurde er mit der Zeit auch ruhiger. Weil du ruhiger geworden bist. Mit Windy hast du heute auf jeden Fall einen großen Fortschritt ge-macht. Ich bin stolz auf dich! Weiter so!", lobte sie zu-frieden und das ließ mich doch ein wenig rot werden. Seit Jess mich trainierte hatte sie mich noch nie so sehr gelobt.

"Wow. Sowas von dir zu hören ist echt eine Auszeichnung! So viel Lob hör ich selten.", sagte ich stolz.

"Tut mir leid, wenn das nicht so rüber kommt, aber du machst das schon echt gut! Wenn ich da so dran denke, wie du am An-fang geritten bist, hast du riesige Fortschritte gemacht. Ich bin echt stolz auf dich! Uns rennt nur die Zeit weg und es gibt noch viel, was du lernen musst. Da ist nicht immer die Zeit für riesig viel Lob."

"Das ist halt nicht deine Art und das ist völlig okay. Du bist trotzdem eine ganz tolle Lehrerin. Gerade, weil du dei-nen ganz eigenen Weg hast, mir etwas bei zu bringen. Einfach mit so Aktionen, wie heute."

"Ich befürchte trotzdem, dass du mich den Rest der Woche hassen wirst."

"Wieso?"

"Wir müssen dringend was für deinen Sitz tun und dafür werde ich dir als erstes die Steigbügel klauen."

"Nein! Bitte nicht! Kein Dressur Training ohne Steigbügel!"

"Ich sag ja. Du wirst mich hassen. Und morgen mit Muskelka-ter noch viel mehr."

"Ich freu mich jetzt schon."

"Das dachte ich mir schon. Jetzt aber los. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch hab, bis die Anderen aufwachen. Ich bin heute auch ausnahmsweise so nett und reit ihn dir warm. Dann siehst du mal, wie es aussehen sollte."

Gemeinsam machten wir Summer also fertig und sie schwang sich auf seinen Rücken, um ihn warm zu reiten und mit ein paar Seitengängen zu lockern, bis sie vor mir hielt und ab-stieg.

"Bei dir sieht das alles so leicht aus und wenn ich das ma-che, fühl ich mich wie der letzte Idiot.", meinte ich. Auch nach so vielen Jahren begeisterte es mich noch immer, wie spielend leicht das alles bei ihr aussah.

"So schlecht bist du auch nicht.", widersprach sie mir.

"Ich scheiter schon am Aufsteigen!"

"Du brauchst nur genug Schwung. Dann klappt das."

"Das ist einfacher gesagt, als getan. Wie gesagt. Bei dir sieht das total einfach aus und ich fühl mich wie der größte Vollidiot, weil ich komplett verkacke."

"Irgendwann lernst du das auch noch. Da hab ich nur jetzt keine Zeit für.", sagte sie und half mir hoch.

"Und jetzt bin ich mal böse und quäl dich, damit das Samstag auch klappt, wie ich mir das vorstelle. Du trabst jetzt mal an und reitest ein paar Traversalen. Einfach, weil du die so sehr liebst.", wies sie mich an.

"Ich hasse dich jetzt schon!", schimpfte ich und trabte an, um eine Traversale auf sie zu zu reiten.

"Ich hab keine Ahnung, was das darstellen soll, aber eine Traversale ist es nicht. Nochmal und diesmal vernünftig! Du kannst das doch!", schimpfte sie und ich startete einen neu-en Versuch, doch es wurde eher schlechter, als besser.

"Ne. Komm mal bitte zu mir.", rief sie mir daraufhin zu und ich hielt vor ihr an.

"Als aller erstes musst du mal vernünftig auf dem Pferd sit-zen. Das ist doch genau das gleiche, wie mit Sattel auch. Die Beine liegen hier am Pferd und bleiben da auch. Die Hän-de sind eine Hand breit über dem Widerrist und bleiben ruhig. Du ziehst ihm sonst die ganze Zeit im Maul rum und Summer wird dann ekelig. Der Oberkörper ist gerade und bleibt hier hinten. Und der Absatz bleibt auch ohne Steig-bügel unten.", erklärte sie und rückte alles so zurecht, dass ich schließlich perfekt auf dem Pferd saß.

"Und so bleibst du jetzt mal sitzen und trabst einfach erst-mal auf dem Zirkel um mich herum. Wir müssen jetzt erstmal an deinem Sitz arbeiten, bevor wir irgendwelche Lektionen reiten können.", sagte sie und so durfte ich etwa zwanzig Minuten lang in verschiedenen Gangarten um sie herum reiten, während sie immer wieder meinen Sitz verbesserte, bevor sie mich dann noch einige Lektionen reiten ließ, bis ich völlig am Ende war. Das war der große Nachteil an Jess als Trainer-in. Sie war unglaublich ehrgeizig und absolut erbarmungslos. Da wurde erst aufgehört, wenn es nach ihren Vorstellungen klappte. Aber damit konnte ich leben und ich hatte mittler-weile auch den Ehrgeiz alles bestmöglich hin zu kriegen. Einfach, weil ich es liebte dieses Strahlen in ihren Augen zu sehen, wenn sie zufrieden mit mir war. Und vor allen Din-gen auch, weil es unglaublich viel Spaß machte. Ja, sie hat-te es tatsächlich geschafft, dass ich mich in die Dressur verliebt hatte. Und das nicht zu wenig.

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