Kapitel 6

21 0 0
                                    

Jess:

Am nächsten Morgen fuhr ich schon früh wieder zur Uni und an diesem Tag packte ich auch direkt die Reitsachen ein. Ich würde es nicht schaffen noch nach Hause zu fahren und so konnte ich schnell in meine Reithose schlüpfen. Da ich mal wieder recht spät dran war, beeilte ich mich also, um es noch pünktlich zu meiner Klausur zu schaffen. Es sollte allerdings anders kommen.

Ich war kaum bei Sue angekommen, als mein Handy klingelte.

"Ja?", meldete ich mich. Wer rief mich denn um die Zeit an?

"Jess, wo bist du?", fragte Carol und der leicht panische Unterton in ihrer Stimme gefiel mir gar nicht.

"An der Uni. Wo auch sonst?", fragte ich verwirrt. Sie wusste doch, dass ich vormittags dort war.

"Kannst du kommen?", fragte sie noch immer sehr unruhig.

"Wieso? Was ist passiert?"

"Halim ist... ausgebrochen."

"Was hat er angestellt?"

"Er hat die Futterkammer gefunden."

"Scheiße! Ich komme!", sagte ich und legte auf. Auf der Stelle machte ich kehrt und wollte schon raus eilen, doch Sue hielt mich fest und fragte: "Wo willst du hin?"

"Ich muss sofort zum Stall!", erklärte ich.

"Du musst jetzt die Klausur schreiben!", schimpfte sie.

"Ich muss jetzt zu Halim!"

"Und was ist mit der Klausur?"

"Die kann ich irgendwann anders schreiben!", sagte ich und riss mich los, um raus zu rennen. So schnell ich konnte fuhr ich zum Stall und sprang aus dem Auto. Dort kam Johannes mir bereits entgegen. Er war kreidebleich und zog mich hinter sich her. Ich rannte jedoch unbeirrt von ihm zu Halims Box.

Dort lag mein Hengst schwer atmend und klitsch nass geschwitzt auf dem Boden. Neben ihm kniete Carol und sagte erleichtert: "Da bist du ja! Wir haben ihn nur bis hier hin gekriegt. Der Tierarzt war schon da."

Ich kniete mich wortlos neben mein Pferd und flüsterte: "Ich helfe dir! Alles wird gut! Aber du musst kämpfen!"

Beruhigend strich ich ihm dabei über den Kopf. Dann stand ich auf und sagte: "Aufstehen! Du musst dich jetzt bewegen!"

Mein Hengst schaute nur zu mir hoch. Ich schnappte mir nun sein Halfter und halfterte ihn auf. Vorsichtig zog ich daran, doch der Hengst regte sich nicht. Kurzerhand schnappte ich mir eine Gerte und scheuchte ihn auf die Beine, bis er zitternd neben mir stand.

"Decken!", wies ich Johannes an, der als einziger noch dort stand. Sofort rannte er los, während ich meinen Hengst aus der Box führte. Langsam ging ich mit ihm die Stallgasse entlang, bis Johannes mit den Decken kam. Eine nach der Anderen warfen wir ihm über, bis er zu zittern aufhörte.

Stundenlang ging ich an diesem Tag mit meinem Hengst die Stallgasse hoch und runter, bis es ihm langsam besser ging und ich ihn zurück in seine Box stellte. Diese hatte Johannes bereits komplett leer geräumt und nur mit Spähnen eingestreut. Schuldbewusst stand er neben der Box und schaute unsicher zu mir. Ich musste nicht nach fragen um zu wissen, dass er den Riegel nicht richtig geschlossen hatte.

"Warum? Ich hab dich doch extra nochmal gewarnt!", fuhr ich ihn wütend an, als Halim ruhig in seiner Box stand.

"Ich hab's vergessen.", sagte er ehrlich. Immerhin log er mich nicht noch an, sondern sagte direkt die Wahrheit.

"Wie kann man so etwas vergessen?!? Da hätte sonst was passieren können! Ist dir eigentlich bewusst, was ich dir für eine Verantwortung anvertraut habe? Ich dachte ich könnte dir vertrauen, aber das kann ich offensichtlich nicht! Wegen dir wäre er fast gestorben! Wegen dir konnte ich meine Klausur heute nicht schreiben! Wegen dir stehe ich jetzt mit einer riesigen Tierartzt Rechnung hier und hab keine Ahnung, wie ich das bezahlen soll! Du kannst dir das vielleicht nicht vorstellen, aber ich kann mir nicht mal eben eine vierstellig Tierarzt Rechnung leisten! Ich habe keine Eltern, die mir alles bezahlen!", schimpfte ich lautstark weiter und sprach damit all die Sorgen aus, die ich mir in den letzten Stunden gemacht hatte.

"Es tut mir leid.", sagte er und schaute beschämt zu Boden.

"Das bringt mir auch nichts!", schimpfte ich weiter. Der glaubte doch nicht ernsthaft, dass damit alles gut war! Das klappte vielleicht bei seinen Eltern, aber bei mir nicht!

"Verschwinde einfach und komm bloß nicht auf die Idee mein Pferd auch nur noch an zu sehen! Du hast genug angerichtet!", schrie ich ihn an und drehte mich von ihm weg. Er sollte nicht sehen, wie es mir wirklich ging. Ich gönnte es ihm nicht mich jetzt noch weinen zu sehen!

Kurz darauf hörte ich, wie er sich von mir entfernte. Ich fiel Halim nun einfach nur noch völlig fertig um den Hals und brach endgültig in Tränen aus.

"Was machen wir denn jetzt? Ich kann diese Rechnung nicht bezahlen. Vielleicht, muss ich dich doch verkaufen. Anders krieg ich das Geld nicht zusammen.", schluchzte ich und weinte mich bei meinem Hengst aus, bis ich mich schließlich von ihm löste und los ging, um mir eine Decke zu holen. Ich hatte beschlossen über Nacht bei ihm zu bleiben und wusste, dass auf dem Heuboden noch ein paar alte Decken lagen. Vorsichtig kletterte ich die Leiter hoch und schnappte mir eine von den Decken, als ich plötzlich in meiner Bewegung verharrte. Was ich dort sah, packte mich an einem sehr wunden Punkt. Meiner Vergangenheit.

Angel behind the AppearanceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt