73

465 31 11
                                    


•Marks Sicht•

Jetzt wusste sie von dem Brief und wir saßen auf der Couch und schwiegen. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. „Willst du ihn eigentlich lesen?", fragte ich schließlich vorsichtig. „Ich... ich weiß es nicht...", gab sie zu. „Ich... hab eintausend Fragen an ihn aber... ich kann das glaub ich nicht", fügte sie mit brüchiger Stimme an. Ich zog sie etwas fester an mich. „Du musst auch nicht. Du bist ihm nichts schuldig", sagte ruhig. Dann war es wieder still. „Lesen könnte ich ihn ja... ich... ich muss ja nicht antworten", murmelte sie leise. „Soll ich ihn holen?", wollte ich deshalb wissen woraufhin sie nickte. Ich stand also auf und holte den Brief aus meinen Nachttisch, um ihn ihr zu geben. Als ich mich wieder setzte lehnte sie sich wieder an mich und ich legte einen Arm um sie. Eine Zeit lang sah sie noch stumm auf den Umschlag in ihren zittrigen Händen, ehe sie den Brief aus diesem zog, ihn vorsichtig auffaltete und begann zu lesen.

Ich sah wie ihr wieder Tränen kamen und drückte sie fester an mich während sie die letzten Zeilen laß und das Blatt Papier schließlich fallen ließ. „Es tut ihm leid", schluchzte sie mit deutlichem Sarkasmus. „Weiß er, was er mich fühlen lassen hat? Hat er sich dieses scheiß Lied überhaupt mal angehört?", weinte sie weiter. Es zerriss mir das Herz sie so zu sehen. Das hatte sie nicht verdient und er hatte sie nicht verdient. „Ich... argh, ich würd ihm manchmal einfach gerne in die Augen schauen und ihm ins Gesicht sagen, wie sehr es wehtat!", meinte sie sauer. Ich spürte wie die Wut in ihr hochkochte und sie hatte jedes Recht dazu. „Und es kotzt mich an, zu wissen, dass ich das sowieso nicht kann!", fügte sie hinzu. „Theoretisch...", begann ich wurde aber direkt unterbrochen. „Ich würde sofort anfangen zu heulen! Er würde mich gar nicht ernst nehmen", war sie der Meinung. Ich hielt sie einfach weiter fest und hörte ihr zu. „Ich will ihm so viele Fragen stellen und ihn anschreien aber ich bekomme eh kein Wort raus", redete sie weiter. „Leni", versuchte ich sie zu unterbrechen. Abwartend sah sie mich an. Die Trauer und Wut in ihren Augen jagten mir einen Schauer über den Rücken. Dieser Mann hatte sie so tief verletzt. „Du... du kannst ihm deine Fragen stellen ohne ihm gegenüber zu stehen", schlug ich vor. Sie schwieg. „Schreib doch einen Brief mit Fragen zurück oder steht da nicht sogar seine Telefonnummer? Dann schreib ihm so", schlug ich vor. Sie sagte weiterhin nichts, schien aber zu überlegen. „Mail vielleicht", murmelte sie schließlich. Ich nickte zustimmend und umarmte sie nochmal richtig bis sie etwas zu Ruhe kam.

„Hilfst du mir?", fragte sie schließlich. „Wenn ich das kann, natürlich", gab ich sofort zurück. Dankbar sah sie mich an. „Ich mach das mit dir. Egal was. Wenn du es dir irgendwann anders überlegst und ihn doch treffen möchtest, dann bin ich da", machte ich nochmal klar. „Danke", meinte sie nur leise und umarmte mich fest, so wie ich sie. Einen Moment genossen wir nur, zu wissen, dass wir das schon schaffen würden. Irgendwie.

Direkt am nächsten Tag, nach unseren Terminen saßen wir zusammen an ihrem Laptop und sie tippte die Mailadresse vom Brief ein. Nach dem Klick in das Textfeld sah sie mich unsicher an. „Du musst das nicht machen", lächelte ich möglichst ruhig. Ich wollte ihr auf keinen Fall Druck machen. „Wie... wie soll ich denn überhaupt anfangen?", fragte sie nur. „Wie du dich fühlst. Wenn dir nach Hallo ist, dann schreib Hallo und wenn du ihn bei Namen nennen willst, dann tu das und wenn nicht, dann lass es. Du bist ihm nichts schuldig.", sagte ich nur und nahm ihre Hand, um sie ein Mal zu drücken. Schließlich tippte sie ein „Hallo, " und machte einen Absatz. Kein Name, auch gut. „Und jetzt? Ich... och man", stieß sie kurz verzweifelt aus. Ich nahm sie mit einem kleinen Schmunzeln in den Arm. Es war schwer für sie aber sie machte es sich auch noch schwerer als es war, wollte nichts falsch machen, das merkte ich. Ich verstand sie ja auch aber eigentlich war ich mir sicher, dass er sich mit allem zufrieden geben musste, was er bekam. Selbst wenn es nichts wäre. Er hatte es gar nicht verdient, dass Lena sich so viele  Gedanken machte. „Fang doch erstmal damit an, dass du den Brief gelesen hast", schlug ich vor. „Aber dann will er bestimmt wissen, wieso ich die davor nicht gelesen habe", meinte sie. „Und? Das geht ihn nichts an. Du wolltest es halt nicht", gab ich schlicht zurück. Sie atmete kurz durch und schrieb weiter. „Gestern habe ich den Brief gelesen, den du an Marks Management geschickt hast." „Das klingt total formal", sagte sie dann. „Wenn du dich danach fühlt, so mit ihm zu sprechen, dann tu das", wiederholte ich. Kurz sah sie mich prüfend an, dann tippte sie weiter: „Dass es dir leid tut, kannst du dir eigentlich sparen." Wieder ging ihr Blick zu mir. „Leni, wenn es so ist, dann ist es so und es ist auch völlig okay", bestärkte ich sie weiter. Das würde wohl noch dauern. „Dennoch habe ich Fragen und wenn du mir ehrlich antwortest, können wir weiter reden oder schreiben.", stellte sie klar. Das fand ich fair. Er bekam die Chance jetzt ihre Fragen zu beantworten und sich zu erklären und dann lag es dennoch an ihr, wie es weitergehen würde. „Und jetzt?", murmelte sie. Ich spürte, dass sie längst etwas im Kopf hatte. „Wenn du magst, lass ich dich allein schreiben. Ich muss das nicht alles mitlesen", schlug ich vor, da sie so wirkte, als wären ihr manche Fragen irgendwie peinlich. Aber sie schüttelte sofort den Kopf. „Man ich kann das nicht... ich... ich hab so viel im Kopf... so viele... Gefühle, Fragen, einfach alles", brach es kurz darauf aufgebracht aus ihr heraus. Hektisch stand sie auf und wollte davonlaufen. In der Tür hielt ich sie auf und zog sie an mich. Sofort spürte, ich dass sie kurz vorm Weinen war. „Hey, du machst das doch gut. Schreib wie du denkst, dann wird das schon", sagte ich leise. „Ich hab aber keine Wörter für das alles", meinte sie und sah mich mit glasigen Augen an. In ihr wütete das reinste Chaos. So kannte ich sie gar nicht aber das war okay. Sie war verletzt, wütend, traurig und wahrscheinlich noch so viel mehr. Vielleicht hatte sie sogar Angst davor, wie es weitergehen würde. „Brauchst du noch ein bisschen Zeit?", fragte ich also. „Keine Ahnung... das wird nicht besser... war schon immer so, wenn ich an ihn gedacht hab", gab sie zu und senkte den Blick. Ich seufzte mitleidig und umarmte sie ein weiteres Mal fest. Irgendwie wollte ich ihr Liebe geben in diesem Moment. Schutz, Geborgenheit und Wärme. Kraft um das Chaos zu sortieren. Ihre Finger hatte sie in meinen Pullover gekrallt und sich bei mir versteckt. Das grade war wichtig. Wir lernten, die letzten Seiten des anderen kennen, die wir noch nicht kannten.

„Komm, versuchen wir's nochmal?", fragte ich vorsichtig und löste mich etwas von ihr. Nach einem tiefen Durchatmen nickte sie. Diesmal setzte ich mich auf ihren Stuhl und zog sie auf meinen Schoß, um ihr näher zu sein. Also legte sie wieder die Finger an die Tastatur und tippte weiter. Sie wollte natürlich wissen, wieso er gegangen war. Ob es an ihr lag, hatte sie geschrieben und dabei hatte ich wohl nur den Bruchteil ihres Schmerzes fühlen können. Zwar hatten sich auch meine Eltern getrennt aber ich hatte immer Kontakt zu beiden und bekam oft vermittelt, dass Natalie und ich nicht Schuld waren. Mittlerweile wusste ich um die Umstände. Lena hingegen wurde von einem Tag auf den anderen damit konfrontiert keinen Vater zu haben. Und selbst wenn sie damals noch ein kleines Kind war, wird es unglaublich wehgetan haben. Und irgendwann kamen wohl die Fragen, warum und wohin, mit wem und wie überhaupt. Genau das schrieb sie schließlich auch. Ob er zu einer anderen Frau gegangen war, wohin er gegangen war, ob er an sie gedacht hat, ob er es bereut hat, wieso er irgendwann nicht mal mehr Karten geschrieben hatte und schließlich wollte sie wissen, ob er ein anderes Kind hatte. „Eins, dass du großgezogen hast, das du liebst, für das du immer da warst und bist. Eins, dass alles hatte, was ich von dir nie bekommen habe." Zittrig hatte sie das geschrieben und fiel schließlich an meine Brust. Ich schloss die Arme und sie. „Ich... ich wusste nicht, dass es immer noch so wehtut", flüsterte sie. Ich hatte das Gefühl sie konnte gar nicht weinen, vor lauter Gefühlen. „Aber dann weiß er, dass sein Fehler war zu gehen und dass nie du der Fehler warst", gab ich leise zurück und wog sie sanft hin und her, wie Natalie damals, wenn sie Papa vermisst hatte oder eine heile Familie. „Und jetzt? Ich kann da nicht ‚Only love' drunter schreiben", meinte sie. Das tat sie sonst bei jeder Mail. „Dann lass es. Schreib einfach Lena oder so", schlug ich vor und das tat sie dann auch. Sie führte die Maus zu ‚senden' und sah mich nochmal an. Ich legte sanft die Hand über ihre und drückte ihren Zeigefinger runter bevor ich sie wieder umarmte und kleine Küsse an ihre Schläfe hauchte. „Geschafft", sagte ich leise. Sie nickte nur. „Du bist stark", fügte ich an. Ungläubig sah sie mich an. „Ich hätte mehrfach am liebsten den Laptop zugemacht und das einfach vergessen", meinte sie. „Hast du aber nicht. Du hast diese Mail geschrieben und abgeschickt. Du hast deine Gefühle frei runtergeschrieben und dass du weinst und sauer bist und was nicht noch alles, ist vollkommen okay. Aber dass du dich nicht davon unterkriegen lässt, das ist stark. Du bist stark", stellte ich klar. Ich wollte sie aufbauen, ihr das Gefühl geben, dass es richtig war. „Danke", gab sie nur zurück. Eine Weile saßen wir noch da, bis sie etwas zur Ruhe kam und ich das Gefühl hatte, dass der nächste Schritt wieder Ablenkung wäre. „Sollen wir kochen? Hast du Hunger?", fragte ich also. Mit einem kleinen Lächeln sah sie mich dankbar an und nickte leicht. „Na dann, los", lächelte ich zurück und so ließen wir die Gedanken erstmal hinter uns.

Ich hoffe, ich konnte das einigermaßen rüberbringen... Ich selbst hab das schließlich nie erlebt.

Der Weg des LebensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt