Mein Vater war wenig angetan von Rasputin, das sah ich sofort. Der Rappe lief für meine Augen gut- nicht toll, aber gut.
„Der ist ein Brett.", rief mein Vater mir zu und schüttelte den Kopf. „Von unten sieht das vielleicht so aus, als habe er irgendwie so etwas wie Schwung, aber im Rücken schwingt nichts. Und vernünftiger Schenkelgehorsam sieht auch anders aus. Reitest du den nur auf Zügelhilfen oder was?"
Mit verschränkten Armen stand ich da und sah zu. Ich hasste es, wenn mein Vater merkte, dass ich einen Fehler gemacht hatte, insbesondere bei Rasputin. Von Anfang an hatte er mir von diesem Pferd abgeraten, aber ich wusste, dass der Rappe Potenzial hatte. „Wenn er im Parcours stark wird vielleicht überwiegend, aber in der Dressurarbeit..."
„Du machst Dressurarbeit mit ihm? Das merke ich nicht." Verärgert schüttelte er den Kopf.
„Ist vielleicht in letzter Zeit etwas kurz gekommen.", gab ich zu.
Darauf gab er keine Antwort mehr, sondern arbeitete die nächsten dreißig Minuten so intensiv mit Rasputin an den Grundlagen, dass der Hengst sich am Ende völlig verschwitzt und offensichtlich müde streckte. „Der wird morgen Muskelkater haben und genau das dürfte er nicht. Der läuft dir sonst anscheinend ja nur auf der Vorhand herum."
„Also keine Turniere erstmal.", schlussfolgerte ich und seufzte innerlich.
„Nein." Mein Vater ließ sich aus dem Sattel gleiten und gab mir die Zügel. „Ich denke, dass Rasputin wirklich grundlegende Sachen fehlen. Die nächsten Tage über bin ich weg, da kannst du am besten Cavalattiarbeit machen. Viele Übergänge, viele Wendungen- und nichts, wobei er stark in der Hand wird. Reite ihn so, dass er sich gut anbieten kann und du ihn ohne Gezerre kontrollieren kannst. Bevor das nicht klappt, musst du gar nicht weitermachen mit ihm."
Müde und unmotiviert hatte ich am Nachmittag noch die anderen Pferde bewegt. Die Sache mit Rasputin setzte mir mehr zu, als ich mir selbst eingestehen wollte. Er war gut, er hatte Potenzial und ich- ich versagte.
Seufzend ließ ich mich ins Bett fallen und zog mir die Decke über den Kopf. Scheiße.
Ich ignorierte das Klopfen an der Tür, stellte mich schlafend und rührte mich nicht, als die Tür aufschwang.
„Schläfst du jetzt wirklich oder verarschst du mich?", hörte ich jemanden leise fragen. Ich wusste genau, zu wem diese Stimme gehörte.
„Lukas?" Fassungslos richtete ich mich auf.
Ich hörte ihn lachen- nur Augenblicke später ging das Licht an.
„Du wolltest doch erst am Wochenende kommen.", stammelte ich perplex, als er im Türrahmen stand. „Jetzt ist Donnerstag und..."
„Ich wollte Julian noch erwischen, bevor er fährt. Außerdem, Donnerstag ist fast Wochenende." Schulterzuckend stand er in der Tür. „Wenn du festgestellt hast, dass ich hier bin, obwohl Donnerstag ist, könntest du mich auch begrüßen. Ich bestehe aber nicht drauf, nicht, dass du dich genötigt fühlst oder so." Er grinste.
„Oh, du Arsch." Kopfschüttelnd schwang ich die Beine aus dem Bett und durchquerte mit drei großen Schritten das Zimmer, bevor ich ihn umarmte. Mir wurde bewusst, wie sehr ich ihn vermisst hatte in den letzten Jahren. Wir hatten uns in den drei Jahren vielleicht fünf- sechsmal gesehen- selten waren wir beide zur gleichen Zeit zuhause gewesen. Die Telefonate waren selten gewesen und zum Schluss hatten wir einander nicht mehr angerufen. Weshalb wusste ich nicht.
„Bist du gleich auch noch ein bisschen auf?"
„Klar!" Wie hätte ich jetzt ins Bett gehen können. „Ich ziehe mich noch eben um, dann komme ich nach."Ich stockte, als ich ins Wohnzimmer kam und neben Lukas eine junge, hübsche Frau saß. Sie schien mich gar nicht zu bemerken.
„Hi.", sagte ich abwartend.
„Hi." Sie lächelte flüchtig und griff nach Lukas Hand, die auf seinem Knie gelegen hatte. Unwillkürlich fielen mir Pauls Bemerkungen ein.
„Das ist Kim.", erklärte Lukas. „Kim, das ist Marie."
„Jaa...", sagte ich gedehnt. „Das hat Paul mir schon erzählt."
„Paul?" Marie sah hoch zu Lukas. „Wer war das noch mal?"
„Vom Turnier in Hamburg."
Sie runzelte die Stirn. „Blond? Groß?"
„Dunkelblond.", korrigierte ich- weniger, weil es mir wichtig gewesen wäre, sondern einfach, um Marie korrigieren zu können.
„Dein Freund?", fragte sie und musterte mich aus ihren braunen Augen. Mir erschien sie auf eine aufdringliche Art und Weise neugierig.
„Das wüsste ich.", antwortete ich und lächelte dünn.
Lukas sah beunruhigt zwischen uns hin und her- ihm schien die stetig wachsende Ablehnung zwischen uns nicht zu entgehen. Ich wusste nicht, woran es lag- sie tat mir im Grunde nichts, dennoch, die wenigen Augenblicke reichten, um mir zu verdeutlichen, dass Marie und ich niemals Freunde sein würden.
„Wie geht es ihm überhaupt?", fragte Lukas.
„Paul? Gut." Ich ließ mich auf einen der Sessel fallen. „Und dir?"
Er nickte. „Kann nicht klagen."
Marie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und küsste ihn. Vermutlich bezog sie es allein auf sich, dass es ihm gut ging. So sah sie zumindest aus.
„Kim?"
Ich sah hoch, als ich die Stimme meines Vaters hörte. „Ja?"
„Willst du noch irgendwas trinken?"
„Nein, danke." Ich lächelte ihn dankbar an, als er sich neben mich setzte.
„Und du bist morgen schon wieder weg?", fragte Lukas.
„Leider. Es ist ein wichtiges Wochenende, da muss ich hin- auch wenn ich gerne hiergeblieben wäre." Er zuckte mit den Schultern. „Was macht dein Studium?"
„Geht voran." Lukas zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur mal wieder herkommen, Marie alles zeigen, euch alle sehen, die Pferde mal wieder ansehen...Gibt nichts Besonderes, es..."
„Ich würde so gern mal deine Pferde sehen....", zwitscherte Marie und fiel ihm ins Wort.
„Kannst du morgen sogar reiten.", erwiderte er und lachte. „Wir gehen ausreiten, ich zeige dir die Umgebung..."
„Paul freut sich darauf, dich zu sehen.", sagte ich leise und sah Lukas direkt an und schaffte es dabei sogar, Marie komplett auszublenden. Es war mir wichtig, ihm irgendwie mitzuteilen, dass Paul- und ich ebenso- wenn er schon hier war, auch Zeit mit ihm verbringen wollten. Marie, die hatte er doch schon bei sich zuhause die ganze Zeit um sich.
„Ihr beiden könnt doch mitkommen."
„Können Sie nicht." Mein Vater stand grinsend auf. „Die beiden haben nämlich Arbeit- im Gegensatz zu dir."
Lolo sprang wunderbar dafür, dass ich völlig genervt und abwesend war. Er schien es mir kaum übel zu nehmen, sprang die verhältnismäßig leichten Sprünge mit traumwandlerischer Sicherheit und ließ mir die Gelegenheit dazu, in Gedanken Lukas an den Kopf zu knallen, was ich davon hielt, dass er direkt nach dem Frühstück mit Marie verschwunden war, um ihr die Umgebung zu zeigen. Paul hatte er noch immer nicht gesehen oder gar begrüßt.
Ich ärgerte mich einfach über sein Verhalten.
Es war, als wären wir in den Hintergrund gerückt.
Inga hatte ihn niemals so für sich beansprucht- überhaupt, Lukas Exfreundin war nett gewesen, beliebt, zurückhaltender. Marie drängte sich auf- so empfand ich das.
Seufzend ließ ich Lolo ein paar Runden galoppieren, ehe ich ihn zurücknahm und ein bisschen Dressurarbeit ins Training einbaute. In perfekter Stellung umrundete er die Sprünge, nahm die Hilfen an und schnaubte ab und an zufrieden.
Ich hob kaum den Kopf, als wenig später die Hallentür aufging und Nika mit Romeo hereinkam.„Ist ein schönes Pferd.", sagte sie, nachdem sie aufgesessen war und an mir vorbei ritt.
„Er ist lieb, ja." Lobend fuhr ich Lolo über den Hals und galoppierte wieder an, um abschließend noch ein paar Sprünge zu machen. Mit ihm zu springen war einfach- fast noch einfacher, als mit Donni. Man zeigte ihm, wo es hingehen sollte und er zog an, ließ sich aber, wenn nötig auch abfangen. Er war ruhiger als Donni, gelassener, nicht so blütig und besaß trotzdem ein hohes Grundtempo wegen seiner großen Galoppade. Vermutlich hätte er auch unerfahrene Springreiter locker durch schwere Prüfungen gebracht.
Zügig galoppierte ich mit ihm auf einen kleinen Oxer zu, kam punktgenau hin und folgte dann einfach seiner Bewegung. Es war beeindruckend, wie Lolo es schaffte, meine Stimmung zu heben. Marie und Lukas waren zwar nicht vergessen, aber in den Hintergrund gerückt worden.
„Es sieht so leicht aus.", rief Nika mir zu, als ich den Braunen am langen Zügel ausgaloppieren ließ. „Anreiten, abspringen, landen, weiter reiten." Seufzend zuckte sie mit den Schultern. „Ich kriege es einfach nicht hin."
„Übungssache. Reine Gewohnheit. Wieso bist du nicht in der kleinen Halle? Da stehen ja keine Sprünge im Weg."
„Dein Bruder hat drüben Unterricht und es ist schon so voll da. Ich wollte nicht auch noch stören."
„Felix hätte es vermutlich nicht einmal gemerkt, wenn du reingekommen wärst."
„Mag sein. Trotzdem bin ich lieber ausgewichen."
„Ist er schon weit?"
„Gerade erst angefangen."
Kurz nur ritt ich trocken, ehe ich mich aus dem Sattel gleiten ließ, Lolo fertigmachte und dann eilig zur Halle ging.
Paul saß auf der Tribüne und winkte mir zu, als er mich näher kommen sah.
Wortlos hielt er mir die Chips- Tüte hin, aber ich schüttelte den Kopf.
„Vielleicht später. Wie sieht's aus?"
„Felix schlägt sich ganz gut. Er quält sich ein bisschen mit den Verstärkungen, aber sonst..." Er seufzte. „Manchmal will ich wieder Ponys reiten."
Ich nickte zustimmend. „Mit Lina und Carlos loszufetzen war schon...lustig."
„Carlos gehe ich übrigens nächste Woche mal besuchen- komm doch mit, wenn du magst."
„Sicher!" Begeistert nickte ich. Carlos mal zu sehen wäre sicher schön.
Ich war früher nicht minder in das Pony verliebt gewesen als Paul. Wenn der schöne, schmale Fuchs mit den weiß- gestiefelten Beinen im Parcours gewesen war, hatte es immer anerkennendes Gemurmel gegeben.
Im Gegensatz zu Lina war Carlos einfacher zu reiten gewesen, weniger eigensinnig auf dem Weg zum Sprung. Wie oft hatte Lina auf einmal meine Hilfen ignoriert, war losgeschossen und hatte einfach einen Galoppsprung weniger gemacht. Wie, um mir zu beweisen, dass sie es viel besser konnte, als ich.
Ich hatte Paul wahnsinnig beneidet, wenn er harmonische, stilistisch nahezu perfekte Runden hingelegt hatte und es dabei keine Diskussion zwischen den Sprüngen gab.
Es war schönes Reiten gewesen, nicht anstrengend, nicht aufwendig- wie meines eben.
„Lina schlurft ganz schon gelangweilt herum.", murmelte ich.
„Das sagst du jedes Mal, wenn du siehst, wie Felix sie reitet und ich widerspreche dir immer."
„Die muss doch springen.", sagte ich seufzend. „Lina ist kein Dressurpony."
„Wenn er nicht will- du kannst es nicht ändern." Paul zuckte mit den Schultern.
„Nur, weil er sich einmal auf die Klappe gelegt hat."
„Aber wie." Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Paul mich an. „Sei froh, dass du nicht dabei warst. Ich habe mich als Außenstehender erschreckt wie sonst was."
„Das ist doch kein Grund, dafür..."
„Er ist mitten in den Sprung geflogen und Lina hinterher! Und als sie sich dann aufgerappelt ist, ist sie fast über ihn drüber. Kim, das hätte ich auch nicht mal eben so weggesteckt- erst recht nicht mit neun, zehn Jahren."
Schweigend schaute ich in die Halle herunter und beobachtete, wie Lina unter Felix fleißig durchgaloppierte und zufrieden schnaubte.
„Zugegebenermaßen bin ich beeindruckt davon, dass er sich überhaupt wieder aufs Pferd getraut hat."
„Ihm ist doch nichts passiert."
„Was das angeht, bist du unsensibel." Mit einem Knistern griff Paul in die Chipstüte. „Oder hast du schlechte Laune?"
Zögernd spielte ich mit dem Reißverschluss meiner Jacke herum. Sollte ich ihm davon erzählen, dass Lukas da war? Und davon, dass er Marie mitgebracht hatte? „Kann sein."
„Was ist?"
„Lukas ist da.", sagte ich leise. „Marie ist dabei."
„Ein Herzchen, was?"
„Ein herzallerliebstes Herzchen.", bestätigte ich und ließ mich gegen Pauls Schulter sinken. „Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich sie aus tiefstem Herzen hasse?"
„Nein.", sagte er schlicht. „Du bist normal."
DU LIEST GERADE
Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...