Part 109

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Es wurde November und die Turniersaison war so gut wie vorbei. Ich war, nachdem ich im August durchgesetzt hatte, erstmal keine Prüfungen mehr zu reiten, überhaupt nicht mehr mitgefahren. Anfangs hatte ich noch gedacht, ich würde mitkommen, um Paul oder den Rest des Teams zu unterstützen, aber mir schwappte selbst zuhause von einigen der Bereiter Unverständnis entgegen und mir war nicht danach, in Jeans und Pulli am Abreiteplatz zu stehen und Freunden und Bekannten zu erklären, was gerade eigentlich los war. Mich erreichten schon so genug Nachfragen, die ich allesamt unbeantwortet ließ und die mit jedem Mal das Gefühl verstärkten, ich müsste bald eine Antwort für mich finden. Je mehr dieser Nachrichten ich bekam, desto biestiger reagierte ich darauf, wenn Paul oder meine Eltern mich danach fragten, ob ich mit meinen Überlegungen weitergekommen sei.

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Kurz nach dem Semesterstart hatte ich Pia in Berlin besucht und der Trip hatte nicht dazu beigetragen, meine Nerven zu beruhigen. Ich war mit ihr bei Ikea gewesen und wir hatten den Tag damit zugebracht, den richtigen Schreibtisch, einen Stuhl und eine Lampe auszusuchen. Das Aufbauen in ihrem WG-Zimmer hatte den ganzen Abend gedauert, bis ihre Mitbewohner uns mitleidig geholfen hatten. Als der Schreibtisch endlich gestanden hatte, hatten wir Bier vom Balkon geholt und in der WG-Küche gequatscht. Ich hatte die lockere, ungezwungene Atmosphäre genossen- genau so lange, bis einer ihrer Mitbewohner, ein schlaksiger, unauffälliger Typ mit braunen Haaren, mich fragte, was ich denn studierte. Das Lächeln, dass ich bis zu dem Augenblick im Gesicht gehabt hatte, musste ziemlich wackelig geworden sein, als ich erzählt hatte, dass ich Bereiterin war. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und ein sehr direktes „Gefällt dir der Job nicht?" hinterhergeschoben, woraufhin ich nur mit den Schultern gezuckt und mir eine Kippe geschnorrt hatte. Ich hatte mich eilig auf den Balkon verzogen, mir kalte Füße auf dem nassen Boden geholt und alleine geraucht, während der feine, aber dichte Sprühregen auf mein Gesicht gefallen war. In diesem Moment hatte ich mich so sehr danach gesehnt, einfach eine Lösung oder zumindest einen Plan zu haben. Oder zumindest die Fragen abstellen zu können, das hätte mir auch schon gereicht. Als sich die Balkontür hinter mir geöffnet hatte und Pias Mitbewohner- er hieß Martin- zu mir nach draußen kam, hatte ich vermieden ihn anzusehen und gehofft, dass der Regen auf meinen Wangen die Tränen unsichtbar machte.

„Habe ich eine blöde Frage gestellt?", hatte er gefragt und sich ein neues Bier aus dem Kasten neben mir genommen, dass er lässig mit einem Feuerzeug geöffnet hatte.

„Ne.", hatte ich knapp gesagt und an der Zigarette zwischen meinen Lippen gezogen.

„Doch, habe ich. Sorry.", hatte er erwidert und mir so direkt, wie er drinnen gefragt hatte, in die Augen gesehen.

„Konntest du ja nicht wissen." Ruhig und mit geschlossenen Augen hatte ich den Rauch ausgeatmet und mich gefragt, ob der Anblick bei meinem Vater eine hypertensive Krise auslösen könnte. Vermutlich. Ich sollte das lassen, ihm zuliebe, mir zuliebe. Ich hatte es nie gemocht, wenn meine Mutter geraucht hatte. Bei dem Geruch nach kaltem Rauch in ihren Haaren, wenn sie mich nach einem stressigen Tag als Kind ins Bett gebracht hatte, hatte ich mir geschworen, nie zu rauchen.

„Willst du darüber reden?", hatte Martin gefragt, ein zweites Bier aus der Kiste geangelt, es aufgemacht und mir hingehalten. Zu zweit hatten wir fast eine Stunde im Nieselregen gestanden, und während meine Socken durchweichten und meine Haare bei der hohen Luftfeuchtigkeit immer unmöglicher abstanden, hatte er mir von sich erzählt. Von seiner kaufmännischen Ausbildung, die er geschmissen hatte, weil er sich in der Bank und im Anzug kaum noch wiedererkannt hatte, wie er dann durch Asien gereist war, weil er einfach keine Entscheidung hatte treffen können.

„Und unterwegs hast du dann plötzlich eine Eingebung gehabt, oder was?", hatte ich gefragt und den spöttischen Unterton in meiner Stimme nicht verbergen können.

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