Nach dem Gespräch verharrte ich tagelang in Schockstarre. Irgendwie erledigte ich meine Arbeit, aber ich weigerte mich beharrlich, mit Marieke darüber zu sprechen, was das Telefonat ergeben hatte. Wie auch zuvor rief ich weder Lukas noch Pia an, weil ich einfach nicht wollte, dass irgendjemand davon erfuhr. Am Dienstag musste ich jedoch nach der Arbeit zum Handy greifen und rang fast eine Viertelstunde mit mir, ob ich meine Mutter oder meinen Vater anrufen sollte. Ich musste ihnen sagen, dass ich nicht nach Balve kommen würde. Die beiden würden mit Felix da sein, weil mein Vater selbst ritt und ich wusste, dass sie sich darauf freuten, mich wiederzusehen. Sie rechneten mit mir- und ich hatte jetzt die Aufgabe vor mir, ihnen irgendwie zu erzählen, weshalb ich nicht auftauchen würde.
Bevor ich schließlich die Nummer meines Vater wählte, atmete ich durch und sagte mir immer wieder, dass Paul und ich nicht getrennt waren. Zumindest nicht so richtig. Es gab keinen Grund durchzudrehen und ganz sicher keinen Grund, vor meinem Vater zu heulen. Trotzdem schaffte ich es gerade bis zu seinem „Feldmann", bevor ich haltlos losschluchzte. In der nächsten halben Stunde versuchte er merklich verwirrt, zu verstehen, was passiert sei. Ich machte es ihm nicht leicht, weil ich so lange es möglich war versuchte zu verheimlichen, was das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Er kam irgendwann von selbst drauf und lauschte dann eine Weile betreten meinem Schluchzen.
„Und deswegen kommst du nicht nach Balve, hm?", fragte er. „Kim, du kannst trotzdem kommen. Wir buchen dir ein Hotelzimmer und kannst ihm entweder aus dem Weg gehen oder dich mit ihm aussprechen. Und du bist nicht allein."
„Er will aber nicht, dass ich komme.", schluchzte ich aufgelöst.
„Wer weiß, ob er das wirklich so gemeint hat."
„Das hat er so gemeint.", erwiderte ich düster und wischte mir mit dem Ärmel meines Pullovers die Tränen weg. „Daran hat er keinen Zweifel gelassen."
„Er kann dir nicht verbieten, deine Familie in Balve zu treffen.", erwiderte mein Vater scharf.
„Er will mich aber nicht sehen. Und ich will....",
„...ihn nicht sehen?", beendete mein Vater meinen Satz mit eindeutig sarkastischem Unterton.
„...ihn nicht noch wütender machen, als er ohnehin schon ist." Irgendwie wusste ich, dass ich genau das bewirken würde, wenn ich doch hinfahren würde. Er war deutlich gewesen, als er mir gesagt hatte, dass er mich nicht sehen wollte und ich hatte das Gefühl, dass ich das dringend respektieren sollte, wenn ich eine Chance für uns wollte.
„Soll ich deine Mutter nach Renesse schicken? Wir könnten bestimmt auf sie verzichten und..."
„Sage das nicht laut.", erwiderte ich eilig und rang mir ein Lächeln ab. Wenn sie das hörte, dann hätte nicht nur ich eine Beziehungskrise.
„Zu spät." Mein Vater seufzte. „Kim, soll sie kommen?"
Ich wusste, was das wurde. Das war das schlechte Gewissen wegen München. Sonst wäre es den beiden nicht im Traum eingefallen, sich mehrere Stunden ins Auto zu setzen und statt zu arbeiten nach mir zu sehen- in Renesse. „Nein.", murmelte ich dann und schüttelte sachte den Kopf. Ich versicherte ihm, dass ich zurechtkäme und ich auch einfach nicht wollte, dass meine Mutter anrückte, um nach mir zu sehen. Mir wäre das furchtbar peinlich gewesen, daran änderte auch nichts, dass ich mir für den Bruchteil einer Sekunde nichts mehr wünschte, als meine Sorgen für ein paar Stunden einfach bei ihr abladen zu können. „Und Papa,", sagte ich zum Abschied. „lass Paul in Ruhe, okay? Ich will nicht verteidigt werden. Mache es bitte nicht noch schlimmer, als es schon ist, ja?"
Meine freien Tage verbrachte ich bei strahlendem Sonnenschein größtenteils eingerollt in meinem Bett. Ich rührte mich eigentlich nur zum Zähneputzen, Essen und einen täglichen Abstecher ins Fitnessstudio. Marieke hatte nicht locker gelassen und darauf beharrt, dass ich mich nicht vollständig vergrub und während wir vor uns hin schwitzten und litten, ließ sie immerhin das Thema Paul außen vor. Ansonsten lag ich vor meinem Laptop und verfolgte die Prüfungen. Mehr als einmal dachte ich darüber nach, ob ich Paul Glück wünschen sollte und jedes Mal entschied ich mich dagegen. Er wollte mich nicht nur nicht sehen, er wollte auch nichts von mir hören. Also hielt ich mich daran. Während der ersten Wertungsprüfung am Freitag zerquetschte ich fast meine Daumen und Paul ritt im ersten Umlauf eine fehlerfreie Runde und sammelte im zweiten nur Zeitfehler. So fassungslos, wie er nach dem zweiten Ritt zur Anzeigetafel schaute, war er nicht weniger überrascht von seinem Ergebnis als ich. Die erste Wertungsprüfung ohne Springfehler zu überstehen war mehr, als er im Vorfeld erwartet hatte. Trotzdem: die große Freude blieb auch bei ihm aus. Er klopfte Fia beim Verlassen des Parcours, aber seine ganze Körpersprache verriet höchstens Erstaunen. Ob es daran lag, dass er schon die zweite Wertungsprüfung am Sonntag im Kopf hatte oder ob er- ähnlich wie ich- in dem Moment daran dachte, dass ich ihn eigentlich am Einritt in Empfang genommen hätte, wusste ich nicht.
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Was liegt ihm auf der Seele? Wertungsprüfung 2, die fehlende Kim oder hat es an anderer Front gekracht?
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Auftauchen
Novela JuvenilIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...