Die Sache mit den Gedankenspielen wurde umso einfacher, je öfter man sich daran versuchte. Am Anfang waren sie sehr bescheiden und sehr nahe an der Realität gewesen. Vielleicht einen anderen Stall suchen, einen, in dem meine Aufgabe nicht so sehr die Turniervorstellung von Pferden wäre. Vielleicht könnte ich Unterricht geben. Vielleicht halbtags meinen Eltern helfen und mein Abitur nachholen. Das war der Punkt gewesen, an dem Lukas begeistert eingestiegen war und versucht hatte mir aufzuzeigen, was ich dann alles machen könnte. Er hatte mir eine Liste mit möglichen Studiengängen präsentiert, die so viel länger war, als ich erwartet hatte. Diese Masse an Möglichkeiten hätte mich überrollt wie eine Lawine und ich hatte- ziemlich verängstigt- für den Abend erstmal aufgegeben. Einfach weiterreiten sah plötzlich wieder nach einer verhältnismäßig einfachen Lösung aus. Ein paar Tage später hatte ich trotzdem mit meinem Laptop neben Paul auf dem Bett gelegen und mich nochmal durch diese Liste geklickt.
„Ist das echt eine Option für dich?", hatte Paul skeptisch gefragt. „Ich meine nicht Chemie." Er schmunzelte, als ich die Informationsseite wegklickte. „Sondern diese ganze Sache. Nochmal zur Schule gehen, Abi machen und dann ernsthaft studieren. Ich meine...du hattest jetzt nie so viel Bock zu lernen."
„Ich hatte ja auch immer eine viel coolere Alternative.", sagte ich und nahm ihm seinen Becher aus der Hand, um mir einen Schluck von seinem Tee zu stibitzen. „Und dafür, dass ich die Hälfte meiner Hausaufgaben bei dir abgeschrieben habe, bin ich ganz gut durchgekommen." Das stimmte sogar. Ich hatte Mathe und Englisch gemacht, Paul Latein und Deutsch. Meine Noten waren immer okay gewesen, in Englisch und Mathe sogar ziemlich gut, in Latein ziemlich schlecht und in Chemie war ich eine echte Katastrophe gewesen. Lukas hatte mir kurz vor meinem Abschluss ein Referat über verschiedene Formen chemischer Reaktionen vorbereitet, dass ich auswendig gelernt und vor unserem Chemielehrer runtergerattert hatte, um die Fünf auf dem Zeugnis zu verhindern. Als er mir eine Frage gestellt hatte, hatte ich ihn verstört angeblinzelt und er hatte mitleidig was von großer Prüfungsangst gemeint. Bestimmt käme daher auch meine Sechs im Test. Ich war geistesgegenwärtig genug gewesen, um zu nicken und hatte meine vier bekommen.
„Aber jetzt nochmal drei Jahre lernen und dann nochmal...ich weiß nicht, fünf Jahre? Das ist schon krass."
War es und das wusste ich auch. „Ich kann doch auch nur einen Bachelor machen.", murmelte ich und klickte mich weiter durch die Liste. „Dann sind es nur drei plus drei Jahre."
„Vorausgesetzt, du machst das in Regelstudienzeit. Samuel fand das stressig. Außerdem- bezahlen Julian und Sina dir das?"
„Sie haben es Lukas bezahlt.", sagte ich und hob den Kopf. „Der hat nicht von Anfang an nebenher gearbeitet."
Den ganzen Abend verbrachten wir vorm Laptop, aber die zündende Idee kam mir nicht. Tiermedizin fand ich spannend, das war naheliegend, aber dafür bräuchte ich Vollabitur, fünf Jahre und vermutlich mehr Hirnschmalz, als ich mir zutraute. Naturwissenschaften fand ich eher öde und hatte auch keine Vorstellung davon, was ich damit anfangen sollte. Ein paar Sachen schloss ich von vornherein aus, weil ich keine Illusionen bezüglich einer eventuellen Abschlussnote hatte. Ein glatter Einserschnitt würde einfach nicht passieren, egal, wie viel Zeit und Mühe ich investieren würde.
„Vielleicht werde ich Chemielehrer.", hatte ich schließlich gesagt und den Laptop frustriert zugeklappt.
„Vielleicht bleibst du besser Bereiter.", hatte Paul lächelnd erwidert und mich geküsst. „Das ist doch noch nicht ausgeschlossen, oder?"
„Ist es nicht, nein." Müde ließ ich meinen Kopf gegen Pauls Oberarm sinken. „Ich versuche doch nur, meine Denkhausaufgaben zu machen."
„Machst du am Wochenende auch Denksport oder kommst du mit aufs Turnier? Zugucken, meine Pferdchen fertig machen, mir die Stiefel putzen, mir meine Wasserflasche hinterhertragen und zur Belohnung vielleicht mal anderen Sport?" Paul grinste und ich rammte ihm ziemlich fest meinen Ellbogen zwischen die Rippen.
„So weit kommt es noch, Pascha!"
„Also kommst du mit?"
Ich kam nicht mit. Hin- und hergerissen zwischen mit Lukas und Felix Haus und Hof zu hüten und einem Wochenende in Hamburg, entschied ich mich schließlich dazu, zu Pia zu fahren. Sie hatte gelobt mir eine große Hilfe beim Nachdenken zu sein und mir an dem Wochenende den studentischen Lebensstil nahezubringen und ich, neugierig darauf, wie sie in Hamburg so lebte, wie sie wohnte und was Niro so machte, hatte zugestimmt, auch, wenn ich davon ausging, die Uni wohl nicht zu Gesicht zu bekommen.
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Ob Kim diese Auszeit vom Denksport wohl sinnvoll nutzt?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...