Part 154

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Die darauffolgenden Tage gingen mir so sehr an die Substanz, dass alles Positive, was ich aus Renesse hatte mitnehmen können, quasi verpuffte. Doch so vehement ich abends gegen Pauls Tür klopfte, so unnachgiebig ich ihm tagsüber hinterherlief- er blockte ab. Er war mit einem Schlag scheinbar immun gegen Mitleid oder Verständnis und vielleicht auch gegen das, was ich ihm doch eigentlich bedeuten sollte- ich biss mir mit zunehmender Verzweiflung die Zähne aus, während alle Welt dabei zusah, wie er mich auf Abstand hielt. Mein Vater nahm mich nach zwei Tagen mit einem sorgenvollen Ausdruck in den Augen zur Seite und fragte, wie Paul denn darauf reagiert habe, dass ich nach Renesse gehen würde und ich hatte- gereizt und hilflos- gefaucht, dass das eine dumme Frage sei. Die Antwort sei ja offensichtlich. Ich hatte dieses Hilfsangebot nicht gewollt. Ich hatte nicht mit ihm oder meiner Mutter oder irgendwem sonst darüber reden wollen, was schiefgelaufen war. Dazu verstand ich es zu gut- und gleichzeitig zu wenig. Es war nicht so, dass ich Pauls Reaktion überhaupt nicht verstand. So, wie die Dinge lagen, hatte ich schließlich über seinen Kopf hinweg einfach entschieden, dass wir mehrere Monate eine Fernbeziehung führen würden. Er wollte das nicht. Er fühlte sich übergangen und ich wusste, dass er dazu jedes Recht hatte. Genauso, wie ich jedes Recht gehabt hatte, seinen Vorwurf unmöglich zu finden. Ich war bereit, das abzuhaken- und er? Ich wusste es nicht. Im Moment schien er allenfalls dazu bereit, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, während ich inständig hoffte, dass sein „Ungleich viel lieben ist nicht so mein Ding" eher eine wütende Warnung denn eine Schlussbemerkung gewesen war. Letztlich wusste ich es nicht- und nach vier Tagen saß ich auf der Fensterbank in meinem Zimmer und wählte Pias Nummer, weil ich diese Unwissenheit nicht mehr alleine ertrug.

Als sie ranging, klang ihr „Hey, Kim, lange nichts gehört." so wenig euphorisch, dass ich kurz schlucken musste. Hatte Paul schon mit ihr gesprochen? War sie auf seiner Seite? War sie genervt? Wusste sie schon alles?"

„Hey, Pia.", murmelte ich und fragte, wie es mit ihren Klausuren voranginge. Ob sie viel lernen müsste. Was irgendwie eine rhetorische Frage war. Sie studierte. Und ohne selbst viel Ahnung zu haben, nahm ich doch an, dass Medizin kein Fach war, dass sich von alleine studierte. Wie es ihr ginge, was ihre WG so machte und ob sie schon die Schnauze voll hatte vom Großstadtleben. Das war wirklich eine rhetorische Frage. In den letzten Wochen hatte Pia zwar bei Instagram eher Bilder von Textmarkern, Büchern und Bibliothekswänden geteilt, aber davor war sie mit ihrer Kamera durch Berlin gezogen und hatte alles festgehalten, was sie bemerkenswert fand. Und das war eine Menge. Während Pia erzählte und dabei immerhin mit jedem Satz mehr auftaute, sah ich aus dem Fenster und atmete angestrengt gegen Impulse an, die so gar nicht miteinander zu vereinbaren waren. Endlich loszuwerden, was ich alleine nicht mehr ertrug und gleichzeitig zu verheimlichen, was für ein Chaos zwischen Paul und mir stand. Sie erzählte gerade, dass sie noch überlegte, ob sie trotz Lernstress noch auf einen Tee zu einem Kommilitonen gehen sollte und ob sie sich das selbst als Lerngruppe oder alternativ als Stress-Management verkaufen könne oder ob sowas eindeutig in die Kategorie Prokrastination fiele, als sie mit einem Schlag innehielt. „Ich labere und labere und du sagst kaum was."

„Stimmt nicht.", sagte ich und rutschte auf meiner Fensterbank herum, weil mir mein Hintern, mein Rücken und meine Knie gleichermaßen wehtaten.

„Kim..." Sie verzichtete trotz der mahnenden Tonlage auf meinen Zweitnamen und ich wusste, dass es keine Option mehr war, zu verheimlichen, was ich ja eigentlich auch nicht für mich behalten wollte.

„Ich weiß nicht...Ich habe...Ich weiß nicht, ob ich Mist gebaut habe.." So setzte ich an und erzählte ihr danach in ziemlich chaotischer Reihenfolge, was alles passiert war. Es ging über Renesse zu Pauls Vorwurf, meinem Entschluss, unserem Gespräch bis zu Pauls Tür, die er so sorgsam verschloss wie seine Ohren. Ich endete mit einem verzweifelten „Was soll ich denn machen?" und ließ meinen Hinterkopf gegen die kühle Wand sinken.

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