Zähneknirschend führte ich am nächsten Tag Raindrop in die Halle.
Raindrop war das Nachwuchspferd meines Vaters.
Die Bewegungen des Rappen standen denen seines Vaters Rubinstein um nichts nach.
Äußerlich war er dessen Ebenbild.
Lackschwarz, ohne jedes Abzeichen und fast beängstigend muskulös. Rubinstein war ich dennoch immer gern geritten, hatte mich dabei auch meistens sicher gefühlt und hatte auf ihm sogar die eine oder andere Piaffe mal ausprobiert. Solange er sich nicht langweilte, war Steinchen ein zuverlässiges, braves Pferd.
Raindrop dagegen...
Seufzend gurtete ich nach, verkürzte die Steigbügel und schwang mich auf seinen Rücken.
...nicht immer ganz zurechnungsfähig.
Meistens fühlte ich mich unwohl, wenn ich den Hengst arbeiten sollte.
Mein Vater wusste das, genauso, wie er wusste, dass niemand sonst besonders gern die Arbeit mit seinem Nachwuchspferd übernahm.
Eigentlich ließ er aus diesem Grund auch niemanden auf ihn drauf und arbeitete ihn lieber selbst, aber wenn er mehr als zwei komplette Tage weg war, musste eben irgendwer herhalten.
Da ich Raindrop ein bisschen kannte, war ich jetzt wohl diejenige.
Bisher schien er einen guten Tag zu haben, ging eifrig vorwärts und kaute auf dem Gebiss, aber ich rechnete jederzeit damit, dass er es sich anders überlegte und mich in der nächsten Ecke absetzte.
Behutsam nahm ich nach einer Weile die Zügel auf, ließ ihn schenkelweichen und richtete ihn mehrfach rückwärts.
Ich verfluchte, dass ich seitdem ich wieder hier war, meinem Vater noch nicht wieder zugesehen hatte, wenn er mit dem Pferd arbeitete.
Sein Programm zu imitieren wäre bedeutend einfacher, als mir selbst eines auszudenken und zu hoffen, dass Raindrop damit klarkam.
Zögernd trabte ich schließlich an, ließ mich mitnehmen von seinem Schwung, versuchte zu entspannen und mich auf ihn einzustellen.
Ich ritt viele Wendungen und Übergänge, baute nach und nach ein paar Trabverstärkungen ein und wagte mich schließlich an die Lektionen, die ich einigermaßen sicher beherrschte.
Überrascht lobte ich Raindrop, als er die Traversale problemlos absolvierte und atmete auf. Offenbar hatte er heute gute Laune.
Ich wagte mich an die Galopparbeit, ritt Figuren und ließ ihn dann ein paar Galoppwechsel springen. Zufrieden ließ ich ihn schließlich auf dem Zirkel galoppieren, mehr zur Entspannung als zu Arbeitszwecken und verlor mich regelrecht in meiner Begeisterung für den herrlichen Galopp, schwingend, bergauf, ruhig, und merkte kaum, wie der Druck auf meine Hand langsam aber stetig zunahm. Und als ich es merkte, war es schon zu spät. Erfolgreich ignorierte Raindrop alle Hilfen und seine Galoppsprünge wurden länger, wurden flacher und ich hörte den Wind in meinen Ohren rauschen.
Mühsam hielt ich ihn auf dem Zirkel und versuchte, die Verbindung zum Pferdemaul zu korrigieren- oder erstmal wieder herzustellen.
Es wurde ein Kraftakt daraus. Kaum spürte ich, wie er langsamer wurde, rutschten mir die Zügel durch die Finger- nur Millimeter, aber der Hengst nutzte es sofort, um wieder zuzulegen.
Ich wusste nicht, wie oft sich das wiederholte, ich versuchte bloß, möglichst ruhig sitzen zu bleiben, zu halten und zu verhindern, dass Raindrop durch die ganze Halle schoss.
Oh ja, ich wusste, warum ich dieses Pferd nicht mochte, warum ich es nicht hatte reiten wollen.
Ich hatte es ihm doch gesagt!
Wütend fasste ich die Zügel nach und verkleinerte mit aller Kraft, die ich noch hatte den Zirkel, bis ich spürte, wie der Hengst langsamer wurde und irgendwann in den Trab fiel.
Fröstelnd schob ich meine Hände in die Jackentaschen, als ich den Stall verließ und erblickte Paul und Lukas. Die beiden standen an einem der Koppelzäune und redeten.
Mit einem Seufzen entschied ich mich dazu, zu den beiden herüberzugehen.
„Na?", sagte Lukas, als er mich sah und lächelte.
Paul verzog keine Miene. Fragend sah ich ihn an, aber er zuckte nur mit den Schultern.
„Alles bestens. Worüber habt ihr gesprochen?"
„Nichts Wichtiges.", sagte Paul, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah kurz gen Himmel. „Das gibt noch Schnee heute."
„Könnte.", stimmte ich ihm zu. „Ich würde mich freuen. Ein richtiger Winter- herrlich."
„Schneematsch auf der Rückfahrt ist überhaupt nicht herrlich!", warf Lukas ein und zerstörte damit meine wunderschönen Winterbilder.
„Ihr fahrt morgen schon wieder, nicht?"
Zustimmend nickte er. „Ganz schön kurz, so ein Wochenende."
„Sag das mal, wenn du ein Turnierwochenende hinter dir hast.", murmelte Paul. „Das ist manchmal verdammt lang."
Erneut warf ich ihm einen fragenden Blick zu, dem er dieses Mal auswich. Irgendwas stimmte nicht mit ihm- das spürte ich sofort.
Es lag etwas in seinem Blick, irgendetwas zwischen Enttäuschung und Wut, dass ich nicht recht einordnen konnte.
Paul war ein Mensch, der entweder gut gelaunt war oder sich zurückhielt- die Tage, an denen ich echte, blanke Wut in seinen Augen hatte sehen können, konnte ich an einer Hand abzählen. Für Paul galt sonst in nahezu jeder Lebenslage: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Er lebte nach diesem Satz und gerade das machte ihn zu der Person, die er war.
„Hatte ich früher, glaube mir: Es hat Spaß gemacht, aber auf Dauer wäre das nichts für mich.", erwiderte Lukas auf seine Aussage.
„Wenn du schon kein ganzes Wochenende auf dem Pferd verbringen willst, wie wäre es mit einem Ausritt morgen früh, bevor ihr fahrt?"
„Lass mal." Lukas schüttelte den Kopf. „Marie meinte, sie will ausschlafen."
„Oh ja, Marie." Paul verdrehte die Augen. „Wenn Marie mit dem Finger schnipst, springst du natürlich."
Ich war verwundert über den Ton, den Paul anschlug, als er das sagte. Es klang regelrecht spöttisch.
„Lass das mal meine Sorge sein.", sagte Lukas ruhig, aber bestimmt.
„Gehst du heute Nachmittag mit mir ausreiten?", fragte ich, um die Unterhaltung der beiden zu unterbrechen und einen eventuellen Streit zu verhindern.
„Ich wollte den Nachmittag eigentlich mit Sina verbringen- ich habe mich kaum mit ihr unterhalten bisher."
Wortlos nickte ich. Ja, verständlich, dass er das wollte. Unsere Familie war für ihn immerhin ein zweites Zuhause, eine zweite Familie geworden. Ich wusste, dass meine Eltern ihn wie einen Sohn sahen, dass auch er sich als vollwertiges Familienmitglied fühlte. Felix betrachtete ihn sowieso als Bruder. Wenn er gefragt wurde, wie viele Geschwister er hatte, antwortete er immer, dass er eine Schwester und einen Bruder hatte. Er wusste, dass Lukas nicht wirklich sein Bruder war, aber es war ihm vollständig egal.
„Wie geht es ihr?", fragte Lukas mich. „Sie..."
„Sie ist nicht besonders gut drauf in der letzten Zeit.", sagte ich und seufzte. „Sie hat Schmerzen- du weißt, wie sie dann tickt. Besonders viel lacht sie nicht."
Ich wickelte meine nassen Haare in ein Handtuch und krabbelte ins Bett. Gähnend kuschelte ich mich unter meine Decke und schloss die Augen, während meine Gedanken noch immer nicht zur Ruhe kamen.
Vergeblich hatte ich darauf gehofft, dass das warme Wasser mich entspannen würde und ich danach gut würde schlafen können, aber da hatte ich falsch gelegen.
Pauls Verhalten ging mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder fragte ich mich, was ihn derart geärgert haben könnte, dass er sich Lukas gegenüber so gegeben hatte.
Die beiden waren Freunde- normalerweise waren ihre Streitereien eher scherzhaft und wenn es Konflikte gab, dann blieben diese meist unpersönlich.
Hatten die beiden sich wirklich gestritten? War Paul schon vorher gereizt gewesen und hatte einfach wegen seiner Ablehnung gegen Marie so reagiert?
Ich hatte keine Ahnung und verlor mich in mehr oder weniger sinnlosen Theorien. Er wollte nicht darüber sprechen, hatte sich nach der Unterhaltung mit Lukas abgesetzt und als ich am Abend an seine Tür geklopft hatte, war sie zugeblieben.
Entweder war er noch unterwegs oder aber er wollte seine Ruhe und hatte sich tot gestellt.
Wer nicht reden wollte....
Müde drehte ich mich auf die Seite, gähnte erneut und schoss fast kerzengerade hoch, als es an meiner Zimmertür klopfte und Lukas den Kopf reinstreckte.
„Was machst du denn hier?", brummte ich und zog mir die Decke über den Kopf.
Er kam herein, schloss leise die Zimmertür und setzte sich schweigend auf mein Bett.
„Alles klar?" Besorgt musterte ich ihn.
„Keine Ahnung."
Verständnislos sah ich ihn an, sah, wie er langsam den Kopf schüttelte.
„Ärger mit Marie?"
„Marie pennt." Er lehnte sich am Kopfende an.
„Und?"
„Nichts und." Er starrte finster in die Dunkelheit.
„Wenn nichts ist, was machst du dann hier?"
„Soll ich gehen?"
„Blödsinn." Ich zog die Knie an den Körper und sah ihn an.
Eine kurze Pause trat ein.
„Ich weiß nicht, was ich an Marie mag.", sagte Lukas schließlich leise. „Keine Ahnung, ob ich überhaupt irgendetwas an ihr mag."
„Warum zur Hölle bist du dann mit ihr zusammen?", fragte ich verständnislos.
Wortlos zuckte er mit den Schultern und verschränkte seine Finger ineinander.
Was sollte ich darauf sagen? Sollte ich dazu überhaupt etwas sagen? „Und Inga?"
„Will ich nicht drüber reden.", flüsterte er, seufzte und stand dann langsam auf. „Wir sehen uns morgen noch, ja?"
„Sicher." Meine Stimme war nicht viel lauter als seine.
„Dann schlaf gut."
„Du auch."
DU LIEST GERADE
Auftauchen
JugendliteraturIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...