Wenn jemand mich gefragt hätte, weswegen ich am nächsten Morgen vor der Abfahrt richtig kribbelig wurde, ich hätte es nicht recht in Worte fassen können. Ich freute mich mehr, als ich noch am Abend zuvor für möglich gehalten hatte. Da hatte ich die Idee gefeiert, mich über die Geste gefreut und auf die Nordsee, die ich einfach schon immer gemocht und bisher viel zu selten gesehen hatte. Familienurlaub- und sei es eben an der Nordsee- war bei uns einfach nie so richtig gewesen. Wir waren nie standardmäßig für zwei Wochen in den Sommerferien weggefahren, weil meine Eltern den Stall nicht gern allein ließen- egal, wie viele Mitarbeiter feierlich schworen, alles im Blick zu behalten. Als ich meine Tasche in den Kofferraum warf und Pia drückte, die ihrerseits ihr Auto belud, um zurück nach Berlin zu fahren, war da aber noch mehr. Ich wollte mal raus, mal weg von den Pferden, mal weg von diesen ganzen Themen, die zwar endlich angepackt worden waren, aber doch noch an meinem Akku zogen, etwa so wie Elektrogeräte auf Standby. Außerdem, und das wurde mir erst so richtig bewusst, als Paul seinen großen Rucksack neben meine Tasche warf, waren fünf Tage Paul und ich- nur er und ich, keine Arbeit, keine Familie, keine Freunde- etwas, dass ich bisher nicht gekriegt hatte.
Auf der Autofahrt, für die Samuel uns gnädigerweise sein Auto überlassen hatte, schaute ich ununterbrochen aus dem Fenster, beobachtete, wie die Umgebung sich änderte, wie, je näher wir der Küste kamen, die Häuser sich immer mehr in die Landschaft duckten. Das nieselige, graue Wetter störte mich dabei kein bisschen, auch nicht, als wir das Auto am Festland abstellten und auf die Fähre wechselten. Ich kam nicht auf die Idee, mein Handy aus den Tiefen meiner Tasche herauszukramen und meine Nachrichten zu checken, dazu war ich viel zu gefangen von den Wellen, dem frischen Wind, der mich doch immer wieder vor Kälte erschauern ließ, von der salzigen Luft und von Paul, der meine Hand in seiner hielt und mir erzählte, was er sich für die nächsten Tage vorgenommen hatte. Ich war fast ein bisschen überrascht, wie viel Programm er sich ausgedacht hatte- ich hatte insgeheim damit gerechnet- und mich darauf gefreut- ungefähr die Hälfte der Zeit mit ihm und meinen Kuschelsocken unter einer dicken Decke zu verbringen.
In der Ferienwohnung konnte man tatsächlich vom Esstisch aus aufs Meer schauen, die Küche war- verglichen mit Pauls Kochzeile- gigantisch groß, das Bad hatte eine große Badewane und das Schlafzimmer mit einer tief ansetzenden Dachschräge war so gemütlich, dass ich mich nach dem Auspacken fast zwingen musste, mich nicht einfach hinzulegen und ein Nickerchen zu machen. Ich war kurz hin- und hergerissen, ob ich nachschauen sollte, was Paul für diesen Kurzurlaub, zumindest für die Wohnung, so bezahlt hatte, ließ es dann aber doch bleiben. Ich hatte so schon das vage Gefühl, dass ich in den nächsten Monaten vielleicht öfter mal die Einkäufe übernehmen sollte. Den Anfang machte ich direkt am ersten Abend, als wir nach einem ersten Erkundungsspaziergang bei Wind und Regen mit nassen, vom Wind zerzausten Haaren und roten Wangen im Supermarkt standen und uns mit Lebensmitteln für die nächsten Tage eindeckten. Paul schien die große Küche jedenfalls dazu beflügelt zu haben, so richtig kochen zu wollen. Meiner Meinung nach taten wir das auch bei ihm, aber als ich das aussprach, schüttelte er schnaubend den Kopf.
„Nudeln mit Soßenvariante eins bis fünf ist nicht kochen, Kim.", sagte er und ich war mir nicht sicher, ob er eher belustigt oder entsetzt war, während wir die Einkäufe in den Rucksack packten. „Nicht in meiner Welt."
„Warum bist du nicht einfach Koch geworden?", scherzte ich. „Man kann sich noch neuorientieren, habe ich gelernt."
„Pferd schlägt Kochtopf, gutes Pferd schlägt alles. Und ich habe gehört, ich habe jetzt mehr als eins davon."
Wir verbrachten die nächsten anderthalb Tage damit, ewige Spaziergänge am Strand entlang, durch die Dünen und die Heidelandschaft zu machen, wir gingen schwimmen und ich ließ mich von Paul echt noch dazu überreden, der Sache mit der Sauna mal eine Chance zu geben und auszuprobieren, ob das gemeinschaftliche Schwitzen in kleinen Holzkisten genauso seltsam war, wie ich es mir immer ausgemalt hatte. Danach war ich nicht nur angefixt, sondern auch so hundemüde und entspannt, dass ich den Rest des Abends dösend auf der Couch im Wohnzimmer verbrachte und meinen Kopf auf Pauls Schoß ablegte, während der durchs Fernsehprogramm zappte und Butterkekskrümel auf meine Haare streute. Mein Handy fasste ich immer noch so gut wie nie an- ich warf morgens einen flüchtigen Blick aufs Display, aber selbst das Beantworten von Nachrichten war mir eigentlich schon zu viel Aufwand. Ich hatte sogar die Nachfrage von meinem Vater, ob ich Paul schon im Watt entsorgt hätte oder ob das Geschenk doch gut genug sei, um ihn zu behalten, ignoriert. Vielleicht auch, weil dieses Geschenk das mit Abstand schönste war, dass sich je jemand für mich ausgedacht hatte. Und auch weil, während ich so dalag, das Knuspern der Kekse nicht weit von meinem Ohr entfernt, zum ersten Mal der Gedanke anklopfte wie es werden könnte, das mit Paul und mir, so auf Dauer. So wirklich auf Dauer. Still und heimlich, während über mir ein Butterkeks nach dem nächsten teils verdrückt wurde, teils mir in die Haare rieselte, träumte ich zum ersten Mal meinen eigenen Zukunftsplan, an dessen Ende ich nur mit aller Willenskraft dem Impuls widerstehen konnte, den Kopf zu heben und Paul mit großen Augen zu fragen, ob wir nicht einen Welpen aus dem Tierheim adoptieren und zusammenziehen sollten.
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Endlich Wochenende- nur leider 10 Grad zu warm. Wer wünscht sich gerade noch aufs winterliche Amrum?
Und: entdeckt Kim gerade ihre häusliche Ader? Ist das der Auftakt zu Eigenheim, Hund und Kinderwagen? 😂
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...