Part 98

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In der Nacht hielt ich mich an Paul fest. Während er mir lange über die Haare strich, krallte ich meine Finger in seinen Rücken und presste meine Stirn gegen seine Brust, während ich meine Zähne zusammenpresste. Jedes Mal, wenn Paul fragte, was er tun könne, drückte ich sie fester aufeinander, weil ich die Antwort nicht kannte. Ich war frustriert und traurig und wütend und ratlos noch dazu. Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich mich aus diesem Sumpf herausmanövrieren sollte. Mein erster Impuls war gewesen, direkt alle an dem Wochenende genannten Prüfungen zu streichen, aber ich wusste auch, dass das ein Aufschieben des Problems auf das darauf folgende Turnier war. Es hatte zuhause geklappt. Ich konnte nicht nach Hause fahren und üben, bis es besser wurde: denn darum ging es nicht. In meinem Kopf hatte ich sogar klar, dass mein Unglück inmitten der Dreifachen nicht zu verhindern gewesen wäre- von niemandem und garantiert nicht durch mehr Training. Das war nicht mein Fehler gewesen. Ich brauchte ein dickeres Fell und meine guten Nerven, meine Abgeklärtheit zurück. Zu reiten, während man paralysiert vor Angst war, war eine miese Sache. Auf dem Niveau, auf dem ich reiten sollte, war es unmöglich.

„Ich würde dir so gern helfen.", flüsterte Paul und als Antwort verstärkte ich den Druck meiner Stirn gegen seine Brust, weil ich ihn nicht ansehen wollte. „Weißt du, was ich mache, wenn ich nervös werde?" Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte und ich rang mich zu einem Kopfschütteln durch.

„Nicht lachen." Er streckte sich und ich wusste, dass er sein Handy vom Boden angelte. „Wenn ich also so richtig ekelhaft nervös werde und das Gefühl habe, mein Herz würde in meiner Brust unter ganz dummen Umständen eventuell explodieren, dann singe ich- im Kopf ein ganz spezielles Lied. Bist du bereit?"

Ich nickte.

„Eigentlich wollte ich das Geheimnis mit ins Grab nehmen."

„Jetzt mache schon.", brach ich ungeduldig mein Schweigen, hob meinen Kopf und rutschte so weit hoch, dass ich mit ihm auf sein Handy sehen konnte.

„Barbie Girl.", sagte er, startete das Video und brach keine zehn Sekunden später in lautes Gelächter aus. Ich brauchte fünf Sekunden länger, bis ich in sein Lachen einstimmen konnte, aber Paul war textsicher, quietschte inbrünstig „You can brush my hair, undress me everywhere" mit und wackelte rhythmisch mit seinen Zehen. „Das läuft dann beim Abreiten und bis zum Grüßen in meinem Kopf auf Repeat." Er drehte mir seinen Kopf zu und küsste mich auf die Stirn. „Jetzt kennst du das dunkle Geheimnis hinter meinem überwältigenden Erfolg."

„Dir ist nicht mehr zu helfen.", stellte ich fest und lachte schnaubend, als Paul das Video erneut abspielte. „Das läuft in deinem Kopf?"

„Besser als der Film, in dem ich den Weg vergesse oder ein Fotograf hinter der Deko hervorgesprungen kommt." Er grinste vergnügt. „Meine Pferde können bestimmt schon mitwippen."

„Und was läuft wirklich in deinem Kopf ab?"

Er zog mich über sich, legte eine Hand entspannt hinter seinen Kopf und ließ die andere Kreise auf meinen Rücken malen. „Das läuft ernsthaft in meinem Kopf ab. Und ja, mir ist manchmal auch schlecht vor Anspannung und manchmal bin ich mir sicher, dass ich unterwegs den Weg vergesse. Dieses kleine Trauma habe ich..."

„...hast du dir in Warendorf mit Carlos geholt." Meine Mundwinkel zuckten. „Ich erinnere mich." Paul war so nervös gewesen, dass er sich verritten hatte- am ersten Sprung. Pia und ich hatten ihn bestimmt vier Wochen pausenlos damit aufgezogen.

„Siehst du. Du bist nicht die Einzige, die manchmal mit den Nerven kämpft."

„Das weiß ich schon, aber..." Seufzend legte ich meine Unterarme auf seiner Brust ab und stützte mein Kinn auf. Seine Hand malte immer noch beruhigend Muster auf mein T-Shirt, während er mich aufmerksam ansah. „Ich weiß nicht,...ob das nur Nerven sind bei mir."

„Was ist es sonst?"

Ich überlegte lange mit ihm wann und wieso das angefangen hatte, was in meinem Kopf abging, warum mich auf einmal störte, dass Leute zusahen. Nicht irgendwelche Leute, sondern die, die sich auskannten, die, die mich kannten und die Erwartungen an mich und daran hatten, wie ich zu reiten hatte. Wieder und wieder kauten wir durch, wie München mich aus der Bahn geworfen hatte und wieso ich glaubte, dass mich das immer noch verfolgte.

„Ich finde,", sagte Paul gegen halb drei so müde, dass er kaum noch seine Zähne auseinander bekam. „dass du nicht annähernd wütend genug bist. Du solltest die alle auffressen wollen statt traurig zu sein, ungefähr so." Er formte mit seiner Hand den Schweigefuchs und ließ ihn knurrend auf die sehr kitzelige Stelle unter meinem Rippenbogen los. 

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