Ich hing schläfrig auf Benthes viel zu gemütlichem Sofa und kämpfte mit der Müdigkeit und an den roten Augen von meinem Vater sah ich, dass es ihm nicht anders ging. Er ließ sich trotzdem noch zu einem Glas Wein breitschlagen, aber ich schüttelte den Kopf, als Benthe mir fragend ein Glas hinhielt. Ich war heilfroh, dass mein Magen nach dem Essen nur unangenehm ziepte und gerade keine Anstalten machte, sich krampfhaft zusammenzuziehen oder in Flammen aufzugehen.
„Du kannst auch Rotwein haben, wenn Weißwein nichts für dich ist.", sagte Benthe, aber ich hob abwehrend die Hände und erklärte, um nicht unhöflich zu wirken, warum ich wirklich nicht trinken wollte.
„Hast du so viel Stress gehabt?", fragte sie ungläubig und ich gab ihr zunächst nur eine Kurzfassung von Donnis Geschichte, holte dann aber doch weiter aus und am Ende erzählte ich sogar, wie sie jetzt zur Erholung bei den Rentnern stand.
„Und du willst die nochmal antrainieren?", fragte Benthe und ich warf meinem Vater einen ratlosen Blick zu, der nur schwer seufzte.
„Wir werden sehen.", antwortete er für mich. „Im Moment wären wir froh, wenn Donni die nächsten Wochen gut übersteht. Die ist schon wirklich angeschlagen und wäre ehrlicherweise bei uns längst nicht mehr, wenn sie nicht Kims Pferd wäre."
„Könnt ihr noch ein Fohlen aus der Stute ziehen?", fragte Benthe nachdenklich, aber auch da zuckte mein Vater mit den Schultern.
„Das müssten wir mal mit der Klinik absprechen, aber dieses Jahr ganz sicher nicht. Die ist so platt, die streckt im Moment mittags im Renterstall alle viere von sich und wackelt dann kaum noch mit dem Ohr."
„Na, es sei ihr gegönnt. Armes Mäuschen", erwiderte Benthe und prostete mir zu. „Auf dein Pferd, Kim. Und auf bessere Zeiten."
Ich döste fast schon vor mich hin, während mein Vater und Benthe fast eine Stunde lang erst über Felix und dann über Benthes Kinder sprachen und wäre es nicht auf dem weichen Sofa vor dem Kaminfeuer so gemütlich gewesen, wäre ich auch ins Bett gegangen. So saß ich mit angezogenen Knien und einer weichen Decke in einer Ecke vom Sofa und hörte den beiden mit halbem Ohr zu, während ich eigentlich dem Knacken des Feuerholzes lauschte und mit einer Hand träge Pip streichelte, der sich vor dem Sofa eingerollt hatte und ab und an zufrieden grunzte. Bella lag vor Benthes Füßen und warf ihr immer wieder auffordernde Blicke zu, die Benthe konsequent übersah. Vielleicht war es die Kombination aus langer Autofahrt, frischer Meerluft, der vom Kaminfeuer ausgehenden Wärme und den fast 400 Kilometern zwischen mir und meinem kranken Pferd, die mich auf eine angenehme Weise müde machte und sich dabei deutlich von der Erschöpfung unterschied, die ich zuletzt zuhause gespürt hatte.
„Hast du schon eine erste Idee, was du nach deinem Abitur machen willst, Kim?", hörte ich Benthe an mich gerichtet fragen und schüttelte den Kopf, ohne mich auch nur das kleinste bisschen aufzurichten.
„Ne.", antwortete ich, vermied es, irgendetwas anderes als Pips Fell anzusehen und bereute im nächsten Moment, mir nicht einfach irgendeinen Zukunftsplan ausgedacht zu haben, weil Benthe prompt nachfragte, warum ich das Reiten denn dann an den Nagel hängen wolle. Sie sah mich offen an, ehrlich interessiert und ich hatte mit einem Mal keine Lust mehr, irgendwas von Prüfungsangst und Leistungsdruck zu erzählen. Diese Dinge hatten ihren Teil zu meiner Entscheidung beigetragen, aber daran allein lag es nicht. Ich nahm mir einen Moment, bevor ich antwortete und konnte die Dinge, die ich in den nächsten Minuten erzählte, nur aussprechen, weil die die tröstliche Wärme von Pips Fell dabei half, weil Benthe gleichzeitig vertraut genug und doch weit genug weg war, und weil die tiefe Müdigkeit nicht nur die Magenschmerzen, sondern auch alles andere, was wehtat, ausreichend betäubte. Ich stellte meinen Blick auf unendlich, als ich anfing zu erzählen und sah nur aus dem Augenwinkel, wie die Haltung meines Vaters sich veränderte, als ich- für ihn und Benthe wohl völlig unvermittelt- von München erzählte. Nicht ausschweifend, nicht von Thomas, aber dafür davon, wie sie gestichelt hatten, wie sie mich ausgeschlossen hatten, wie sie hinter meinem Rücken kein gutes Haar an meiner Reiterei gelassen hatten, wie ich mit einem Gefühl von grimmigem Stolz an den Wochenenden von den Turnieren heimgekommen war, wenn ich- das Küken im Team, das doch angeblich gar nicht reiten konnte- die meisten Schleifen heimbrachte. Und wie verzweifelt ich gewesen war, wenn es mal nicht geklappt hatte- weil mich dann ihre Kommentare und Blicke wirklich daran hatten glauben lassen, dass ich wohl an maßloser Selbstüberschätzung leiden musste. Ich erzählte sogar davon- und dabei wandte ich meinen Kopf soweit wie nur möglich von meinem Vater ab- wie sie gegen meine Familie geschossen hatten. Wie erfolgsgeil meine Eltern sein mussten, mir solche Pferde hinzustellen. Wie sie Witze darüber gemacht hatten, dass meine Eltern sicher genau wussten, mit wem man zu Abend essen musste, um mir- und sicher bald auch meinem Bruder- die Kaderzugehörigkeit zu sichern. Den Rest behielt ich für mich. Mein Vater, in dessen Gegenwart ich nie darüber geredet hatte, was in München passiert war, atmete verdächtig tief und blieb stumm, während Benthe- und ich wusste sofort, weswegen ich in ihrer Gegenwart darüber hatte sprechen können- verächtlich schnaubte und begann sich aufzuregen, völlig frei von Mitleid.
„Menschen können so hässlich sein, Kim. Was mein Sohn sich manchmal auf Turnieren anhören musste..." Sie winkte ab. „Einfach hässlich." Sie schüttelte sich heftig. „Einmal", setzte sie an und lachte leise auf. „einmal bin ich wirklich zu einer Frau hingegangen und habe sie gefragt, ob sie gut in den Spiegel gucken kann, wenn sie vorher meine Kinder beleidigt. Sie hat nie wieder ein Wort über uns verloren. Nie wieder." Sie erzählte eine ganze Weile davon, was ihr Mann und sie teilweise erlebt hatten und gab mir damit während sie sprach die Möglichkeit, mich wieder zu sortieren und vorsichtig zu meinem Vater- der mit seinem Blick ins flackernde Kaminfeuer abgedriftet war- herüberzusehen. Von all den Menschen, mit denen ich über meine Ausbildungszeit geredet hatte, hatte Benthe am wenigsten Mitleid, dabei aber genug Wut für sie und mich zusammen. Und das tat gut, das kitzelte keine Tränen hervor und gab mir nicht das Gefühl, in großen Lettern „Opfer" auf meiner Stirn stehen zu haben.
„Da kann einem der Spaß am Reiten schon vergehen.", sagte Benthe finster und sah mich eindringlich an.
Ich nickte, holte Luft, setzte an, brach ab und unternahm einen neuen Anlauf, bevor ich einräumte, dass das aber nicht alles sei. Dass München sicher der Auslöser gewesen sei, ich aber auch einfach nicht wusste, ob es das schon gewesen sein sollte- Reiten, jeden Tag, den ganzen Tag. Dass ich neugierig war. Dass ich nie etwas anderem als den Pferden eine Chance gegeben hatte- und jetzt wissen wollte, was es da vielleicht noch so gab. Erst, als ich das ausgesprochen hatte, konnte ich meine Hand aus Pips Fell zurückziehen und spüren, dass ich, obwohl die dämpfende Wirkung der Müdigkeit abgenommen hatte, okay war, seltsam okay. Nicht nur das- ich war auch mit meiner Entscheidung durch und durch okay. Das war keine Kurzschlussreaktion, die ich unbegründet aus einer Laune heraus getroffen hatte. Das hatte seine Geschichte und seine Berechtigung.
„Und so hat alles im Leben wohl einen Sinn." Benthe prostete mir zu, richtete sich auf, beugte sich zu meinem Vater herüber und boxte ihm fest gegen sein Knie, um ihn aus seiner Starre zu reißen. „Nicht nur eine hübsche, auch noch eine mutige Tochter."
„Ich weiß.", sagte er leise und sah mir zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit direkt in die Augen und als sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln hoben, mit dem ich ihm zeigen wollte, dass alles in Ordnung war und er nicht vor Sorge um mich im Feuer ertrinken musste, lächelte er kaum merklich zurück. Trotzdem- ich spürte, dass er nach dem Gespräch meine Entscheidung besser verstand und dass er, anders als vorher, nicht nur akzeptierte, dass ich einen neuen Weg einschlug, sondern dass er wirklich dahinter stand. Eben das rührte mich mehr, als er und ich vor Benthe ertragen wollten und wir wandten gleichzeitig eilig den Blick ab.
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Schönes Wochenende ihr Lieben. Ich kann gar nicht glauben, wie früh es ernsthaft schon wieder dunkel wird. Aber gut, mehr Zeit für Kim und das Folgeprojekt :)
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...